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Hallo Rälph, ich frage Dich ja lediglich nach Details zu einem Standpunkt, den Du selbst in die Debatte eingeführt hast. Du sagst, Christen hätten längst neue Regeln eingeführt, aber wenn ich nach diesen Regeln frage, klingt es so, als wären diese Regeln nicht unterscheidbar von denen der Nicht-Christen. Auf gleiche Weise stellen sich die Taten der Christen dar; auch diese sind nicht unterscheidbar von Nicht-Christen.
Du fragst mich, warum ich es kritisiere, wenn Gläubige ihre (derzeit noch nebulösen) Regeln aus der Vernunft ableiten. Darauf kann ich zwei Antworten geben:
Erstens ist mir nicht klar, dass sie aus der Vernunft abgeleitet wurden, da die Regeln unbekannt sind.
Zweitens bin ich mir ziemlich sicher, dass Gläubige zwar aus Vernunft (oder Bequemlichkeit oder Eigennutz) handeln, dieses Handeln jedoch religiös legitimieren und dadurch unangreifbar machen. Sie heben ihr Handeln auf einen Sockel, der nicht kritisiert werden darf. Hingegen dürfen die Standpunkte aller anderen gerne kritisiert werden. Das ist eine klassische Immunisierungsstrategie. Es ist der Grund, warum man mit religiösen Leuten i.d.R. nicht diskutieren kann.
Die häufigste Kritik, der man sich als Atheist in Debatten mit Gläubigen ausgesetzt sieht, bezieht sich nicht auf die Argumente (denn davon verstehen Gläubige in aller Regel nichts, sorry). Sondern die Kritik bezieht sich darauf, wieso man sich erdreistet, die Religion überhaupt zu kritisieren. Diese gilt als unantastbar.
Argumente, die dem Verstand entspringen, sind antastbar. Insofern muss man bei Gläubigen immer etwas wachsam sein, wenn sie behaupten, ihre Haltung sei ein Ergebnis der Vernunft. Sobald man Gegenargumente bringt, wird es plötzlich religiös und damit unantastbar.
Ich gebe Dir auch gleich ein prominentes Beispiel. In der Bundestags-Debatte über die „Ehe für alle“ ging es um Staats- und Bürgerrecht, also um einen juristischen Sachverhalt. Es ist eine Sache des Verstandes. Verschiedene Abgeordnete trugen ihre Argumente vor, und diese wurden von anderen Abgeordneten kritisiert.
Dann trat Seine Heiligkeit Volker Kauder (CDU) ans Pult und teilte mit, er habe nunmal eine religiöse Überzeugung, und eine Begründung müsse er daher nicht geben. Er verlangte stattdessen, dass man seine Haltung auch ohne Begründung respektiere. Die benachteiligten Bürger müssten das eben hinnehmen. Fazit: Alle Argumente sind antastbar, nur seines nicht. Alle müssen eine Begründung liefern, nur er nicht. Zwar kann er anderen Leuten ihre Rechte streitig machen, jedoch dürfe man ihn dafür nicht kritisieren, denn das wäre respektlos.
Bitte beachte, dass Volker Kauder bei näherem Hinsehen überhaupt nicht religiös argumentierte. Er zitierte keine Psalmen. Sondern er argumentierte rational. Jedoch verwendete er die Religion, um seine rationalen Standpunkte unangreifbar zu machen. Das ist der Trick.
Die Vermischung von Vernunft und Religion wird oft als ganz besonders weise und modern angepriesen, als das „rechte Maß“. Aber meist ist es eine Immunisierungsstrategie und eine Form des Selbstbetrugs. Dort, wo die Religion unbequem ist, wählt man den Verstand. Wo der Verstand zu unerwünschten Ergebnissen führt (oder gar zu Kritik von anderen), da ist man sofort wieder bei der Religion. Es ist eine Form der Selbstgerechtigkeit — dem eigentlichen Kern der Religionen.
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