Zitat:
Zitat von Jörn
neo, dann sind wir uns offenbar insoweit einig, dass der Text interpretiert werden muss, auch dann, wenn es eine Chronik ist. Für Dich ergibt sich die Notwendigkeit der Interpretation daraus, wie der Text formuliert wurde, oder aus dem historischen Kontext. Für mich ergibt sich die Notwendigkeit der Interpretation daraus, dass der Text ansonsten offensichtlich unsinnig wäre.
Das Ergebnis ist, dass der Text interpretiert werden muss.
Aber was kommt dabei heraus?
Meine Interpretation besteht darin, dass die geschilderten Ereignisse nicht stattgefunden haben, und dass stattdessen eine Rechtfertigung für eine Inbesitznahme von Land etabliert werden sollte. Da gab es weder die Schlacht noch Gott (und auch keinen Stillstand von Sonne und Mond).
Es ist also nicht so, dass ich den Text wörtlich nehmen würde. Aber ich ziehe in Betracht, dass das Ergebnis der Interpretation auch sein kann, dass er gegenstandslos erfunden wurde.
Allein die Tatsache, dass eine Interpretation das Potenzial birgt, eine tiefe Wahrheit herauszuschälen, bedeutet nicht, dass die Wahrheit tatsächlich existiert. Es ist ebensogut möglich, dass die Geschichte nicht stimmt.
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Zu meiner Denkweise: Ich persönlich würde den Text zunächst einmal sprachlich-literarisch durchforsten. Das größte Problem bei der ganzen Sache: dieser Text liegt nicht in der Originalsprache vor. (Ich bin des Hebräischen nicht mächtig, Griechisch ist bei mir mau, Latein geht bei Weitem noch besser.)
Und da beginnt die Crux grundsätzlich mit allen Übersetzungen und mit allen biblischen Texten im Bsonderen [Sind sich die jüdischen Gelehrten, die seit jeher ihre Sprache weitergegeben haben schon nicht einig in der Auslegung, daher stammt ja auch der Ausdruck "sich um jedes Jota zustreiten."] Übersetzungen sind von der einen in die andere Sprache im eigentlichen Sinne nicht möglich - da kannste sämtliche sprachtheoretischen Veröffentlichungen nachlesen - ein nicht unbeträchtlicher Verlust wird immer da sein (Sachtexte will ich jetzt mal außen vorlassen, da sie für das Thema nicht relevant sind.).
Dazu kommt der zeitliche und kulturelle Abstand: Formulierungen und Bilder aus einem fremden Kulturkreis (der und zweifelsohne beeinflußt hat, aber der uns in Europa nie so vertraut war), die zur Zeit der Urheberschaft nichts besonderes waren, sind uns entweder verloren gegangen (weil wir die Zusammenhänge und Assoziationen nicht mehr kennen) oder muten uns heute seltsam an: allein dadurch geht sehr viel Subtext und somit Inhalt verloren, der einem Menschen der damaligen Zeit vollkommen vertraut war.
Man muß nicht einmal bis in die Bronzezeit, fremde Sprachen und Kulturen zurückgehen, wie im genannten Beispiel: Wenn Gottfried Keller um 1900 schreibt: "Sie sah ihn mit blödem Gesicht an.", dann meint er nicht, daß jemand irgendwelche Grimassen schneidet oder Fressen hinzieht, sondern dann geht es um eine blinde Person, die jemanden mit ihren leeren Augen anblickt. >>Blöd<< ist ein alter Ausdruck für blind [>>Doof<< im übrigen ein alter niederdeutscher Ausdruck für >>gehörlos<<].
Die Ikonographie von Hieronymus Bosch, vom Kulturkreis her nicht entfernt, es ist "unser" Revier, seine Symbolsprache ist heute kaum bis nicht mehr zu entschlüsseln. Das Wissen darum ist verloren gegangen. Zu seiner Zeit war der gute Mann das, was man heute einen Popstar nennen würde. Seine Bilder gefragt und inhaltlich - so viel scheint klar zu sein! - sehr gewagt da extrem kritisch!
Die Bilder jetzt einfach nur als "Trip-Zeichnungen" anzusehen ist zu billig. Als Mitglied der "Bruderschaft Unserer Lieben Frau" hätte er sicherlich nicht lange irgendwelchen ketzerischen Unfug treiben können - der soziale Druck innerhalb dieser strenggläubigen Gemeinschaft muß enorm gewesen sein [aus der heutigen Sicht!] und immerhin waren die Dominikaner die "Hausseelsorger" dieser Bruderschaft. Die waren schnell mit dem Scheiterhaufen bei der Hand ...
Schauen wir uns heute Emblamata des 16.-18. Jhdts. an, dann stehen wir total dumm da und kennen uns nicht aus, weil uns all das, was zum Verständnis nötig ist, abhanden gekommen ist. Wir müssen mühsam nachblättern in Lexika, um ein Bild und einen Text richtig zu verstehen. Jeglicher Zusammenhang ist uns da verloren gegangen [Embemata können höchst spannend sein, sobald man sich die endlose Mühe macht, die Zusammenhänge herzustellen und man wird sie auch in den Gemälden der damaligen Zeiten entdecken können, was so manchem Porträt eines Meisters plötzlich bittere und überraschende Wendungen geben kann].
Zu Deinem letzten Absatz:
Absolut d'accord! Das ist der Unterschied zwischen logischer Wahrheit und faktischer Wahrheit. Erkenntnistheoretisch gesehen habe ich große Zweifel, daß wir immer den Unterschied erkennen können. Ich Englischen kann man das sehr schön ausdrücken mit den zwei Wörtern "to fit" und "to match". So sehr ich die deutsche Sprache für ihre Präzision, Schärfe und Möglichkeit zur Wortneuschöpfung schätze, da ist das Englische präziser! Eine logische Wahrheit ----> fit. Die faktische Wahrheit ----> match.
