Zitat von Klugschnacker
Moral existiert im Spannungsfeld komplementärer Verhaltensweisen, zum Beispiel Aggression und Friedfertigkeit, Egoismus und Hilfsbereitschaft, Führungsanspruch und Bereitschaft zum Gehorsam, und so weiter. Eine bestimmte, jedoch nicht von vornherein festgelegte Balance zwischen diesen Eigenschaften oder Werten bezeichnen wir als Moral. Wenn wir entscheiden wollen, wie ein Mensch so tickt, dann schauen wir uns seine Position in diesem Koordinatensystem an. Zum Beispiel, seine Bereitschaft, sich zulasten anderer durchzusetzen, oder seine Aufopferung bei der Erziehung seiner Kinder.
Wie sich diese komplexen Eigenschaften zwangsläufig von selbst entwickeln, kann man modellhaft an einem einfachen Beispiel zeigen. Die Wirklichkeit ist natürlich komplizierter, aber hier geht es zunächst um das Prinzip.
Denken wir uns eine Population äußerst friedfertiger Individuen. Es können Menschen sein, aber ebensogut Fische, Käfer oder Hirsche. Wo immer sie einem Konflikt begegnen, weichen sie zurück und gehen ihm aus dem Weg. Kämpfe um eine knappe Ressource (eine Höhle, ein Stück Futter, eine günstige Stadtwohnung) bestehen schlimmstenfalls in gegenseitigem Anstarren, bis einer die Geduld verliert und nach Hause geht. Nennen wir diese Wesen die "Pazifisten".
Durch eine zufällige genetische Mutation entsteht nun ein Wesen mit aggressivem Verhalten. Es weicht keinem Konflikt aus und kämpft stets so lange, bis schwere Verletzungen es zur Aufgabe zwingen. Dieses Wesen gewinnt in einer Population, die ausschließlich aus Pazifisten besteht, jeden Zweikampf. Ganz gleich ob es um Nahrung, Wohnraum oder Führungsanspruch geht, der "Kämpfer" gewinnt immer. Denn die Pazifisten hauen sofort ab, wenn er auftaucht.
Der Kämpfer hat dadurch einen enormen Fortpflanzungserfolg und breitet sich innerhalb der Population, die von Pazifisten dominiert wird, schnell aus. Die Zahl der Kämpfer wächst an. In zunehmendem Maße gerät der Kämpfer bei seinen Auseinandersetzungen nun jedoch ebenfalls an einen Kämpfer. Da er nie zurückweicht oder aufgibt, verstrickt er sich mehr und mehr in aufreibende Kämpfe, oft mit schlimmen Folgen für ihn selbst. Erreicht die Zahl der Kämpfer einen kritischen Wert, ist plötzlich die Strategie der Pazifisten wieder attraktiv: Statt sich in Streitereien aufzureiben, kümmern sie sich um die Nahrungsbeschaffung und die Aufzucht ihres Nachwuchses.
Dadurch wird die Zahl der Pazifisten wieder größer. Letztlich wird ein Gleichgewicht erreicht, zum Beispiel 80% Pazifisten und 20% Kämpfer. Sinkt die Zahl der Kämper auf einen kleineren Wert, zum Beispiel 15%, steigen die Erfolgsaussichten für die Kämpfer, siegreich aus einer Auseinandersetzung hervorzugehen. Sie werden wieder zunehmen. Steigt die Zahl der Kämpfer auf 25%, steigt dadurch auch die Wahrscheinlichkeit, bei einem Konflikt auf einen Kämpfer zu stoßen und verletzt zu werden. Das bevorteilt die Pazifisten, die wieder zunehmen.
Zwischenfazit: Die Zahl der Kämpfer und Pazifisten in einer Population ist kein Zufall, sondern stellt ein Gleichgewicht zwischen zwei Strategien dar. Dieses Gleichgewicht wird zwangsläufig erreicht. Es spiegelt den Erfolg einer Strategie wieder, also das Verhältnis von Risiko und Ertrag.
Aus diesem Gleichgewicht heraus entwickeln sich durch die Evolution Mischtypen: Das sind Wesen, die nicht immer in gleicher Weise reagieren, also stets aggressiv oder friedfertig. Sondern die ihre Strategien je nach Situation anpassen: Werde ich geschlagen, schlage ich zurück; begegnet mir jemand friedlich, so bin ich ebenfalls friedlich. Falls dieser Mischtyp erfolgreicher ist als der Pazifist und der Kämpfer, wird er sich in der Population ausbreiten, ohne die beiden anderen Typen ganz zu verdrängen.
Genetisch gesprochen, wird jeweils ein Gen vererbt, dass eine Neigung zum Angriff, zur Flucht oder zur Abwägung zwischen beidem bewirkt. Zum Beispiel durch die vermehrte oder verminderte Produktion von Testosteron etc. Je nach dem, welche Strategie erfolgreich ist, wird auch das Gen, dass sie begünstigt, weitergegeben.
Es braucht keinerlei Bewusstsein, um das Prinzip "was Du nicht willst, das man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu" zu erfinden. Diese Strategie ergibt sich auch ohne Gehirne durch den Fortpflanzungserfolg unterschiedlicher Strategien (Verhaltensweisen). Die Evolution entwickelt also nicht nur Stoßzähne und Augen, sondern auch komplexe Verhaltensweisen im Spannungsfeld zwischen Aggressivität und Friedfertigkeit.
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Bisher war von Strategien die Rede, die von Genen begünstigt werden. Dabei werden sich Gene, die eine erfolgreiche Verhaltensweise begünstigen, gegen konkurrierende Gene aus dem Genpool durchsetzen und sich anhäufen. In gleicher Weise findet eine Evolution von Ideen statt, die im Ideenpool um die Weitergabe in die nächste Generation konkurrieren.
In diesem Ideenpool befindet sich alles, was als kulturelle Errungenschaft denkbar wäre. Ebenso wie ein Gen, das aggressives Verhalten begünstigt, kann auch auf der kulturellen Ebene ein angriffslustiges, kriegerisches Verhalten entstehen, etwa durch Erziehung. Auch hier erwarten wir, dass sich ein kulturell bedingtes Gleichgewicht aus friedfertigem und aggressivem Verhalten einstellen wird: Rein pazifistische Völker werden überrannt, allzu kriegerische Gesellschaften reiben sich selbst auf. Auch ohne bewusstes Eingreifen eine übergeordneten Instanz werden jene Völker den größten Erfolg haben, die eine optimale Balance zwischen beiden Eigenschaften haben: sich also nicht überrennen lassen, sich jedoch nicht ständig in Kriege hineinziehen lassen.
So bilden sich komplexe Verhaltensweisen, repräsentiert auf der genetischen, der kulturellen und der individuellen Ebene. Unsere Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen, die in Not geraten sind, hat sich aufgrund von Mechanismen entwickelt, die viel älter sind als die Menschheit. Eine gemäßigt solidarische Gesellschaft wie die unsere ist schlicht stabiler als eine rein egoistische oder eine rein altruistische. Wir nennen das "Moral". Wir fühlen uns gut, wenn wir anderen helfen, zumindest bis zu einer gewissen Grenze (Stichwort "Obergrenze" in der Flüchtlingsdebatte).
Wie gesagt, das ist eine vereinfachte Darstellung komplexer Vorgänge, die Milliarden Jahre Zeit hatten und Milliarden von Interaktionen umfassen. Moral ist etwas sehr Grundlegendes, das sich von selbst entwickelt hat, als jeweils erfolgreichste unter vielen Strategien. Es ist nicht die Erfindung der Menschen und erst recht nicht einzelner Personen.
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