Für mich (und viele andere, die auch in anderen Ländern großgeworden sind) ist diese Haltung schwer verständlich, aber in Deutschland weit verbreitet. Ich vermute, der Stolz auf die eigene Nation ist durch die Nationalsozialisten zu gründlich diskreditiert worden.
Ich bin nicht stolz, nur dankbar. Ich profitiere von meinen Vorfahren und versuche im Kleinen etwas zurück zu geben.
Z.B. stelle ich meine Schwimmtrainingspläne zur Verfügung, ohne eine paar bescheuerte € zu verlangen.
Ich unterrichte Mathe, schon mal für Blinde, Gelähmte und Dyskalkuliker.
Wenn ich also denke, ich verstehe von irgendwas etwas, dann teile ich. Geben bringt nämlich mehr als Nehmen. Darauf bin ich dann schon stolz.
Ich stamme aus Osteuropa, wo viele kleine Völker leben, in der Geschichte oft in ihrer Existenz bedroht wurden durch größere Nachbarn oder Eroberer. Solche Nationen haben gelernt, daß kein Volk auf Dauer bestehen kann, das nicht seine Identität mit Stolz vertritt, pflegt und ggf. verteidigt. Deshalb ist dort meistens ein wesentlicher Teil der Schulbildung das sehr gründliche Kennenlernen der eigenen (kompletten) Geschichte und Kultur, mit Hervorhebung der besonderen Leistungen darin, wie auch der besonderen Fehler. Dieser Stolz setzt deshalb noch keinen anderen herab - es bringt einem aber die eigene Identität näher, gibt den Menschen eine kulturelle Heimat, eine Zugehörigkeit, und damit eine Sicherheit im Leben, die gerade in Zeiten der Globalisierung für viele verloren zu gehen scheint.
Dieser Stolz setzt nicht direkt andere herab, aber er wirkt ausgrenzend.
Patriotismus unterscheidet sich jeweils von Land zu Land. Bspw. in Frankreich wird ein stärkerer Verfassungspatriotismus gelebt, während wir in Deutschland von einem ethnischen Patriotismus ausgehen können. Die Folgen letzteren waren in vermehrtem Rassismus während der internationalen Fußball Turniere zu spüren. Dies ist eng verbunden mit der Staatsbürgerschaft. Das deutsche Konzept ist ein ethnisches, während wir in Frankreich von einer territorialen Staatsbürgerschaft sprechen. Der FN wurde in Frankreich u.a. deshalb als rechtsextrem bezeichnet, weil er für eine ethnische Staatsbürgerschaft eingetreten ist.
Identität besteht nicht nur aus "Abstammung". Viele Migranten würden sich selbst als Deutsche bezeichnen. [Hier kann auch ein Querverweis zur Statistik erfolgen: die Kategorie der "Menschen mit Migrationshintergrund" ist eine deutsche Erfindung (die Erfinderin ärgert sich über dessen Einführung). In GB/Polen beruht die statistische Erfassung der "ethnischen" Zugehörigkeit bzw. des Migrationshintergrund auf eigene Angaben. Die Deutschen haben offenbar ein sehr schwieriges Verhältnis zu Migration und Ethnie und der Abgrenzungsbedarf ist unter vielen überraschend groß.]
Über deinen letzten Satz kann ich leider nur den Kopf schütteln, aber du scheinst ein konservatives Weltbild zu pflegen - es sei dir gelassen. Ich meinerseits pflege ein fortschrittliches Weltbild und identifiziere mich nicht über meine "Abstammung" oder Kultur. Klar, Kultur prägt mich und ich pflege auch manche Traditionen (bspw. haben meine Freundin und ich uns zum 6. Januar beschenkt, wie in Spanien üblich [vor allen Dingen, da es uns zeitlich besser gepasst hat]), betrachte Kultur allerdings als wandelbar.
Zum Schluss: ja, ich bin froh in einem demokratischen System zu leben. Stolz kann ich damit jedoch keinen verbinden. Um auf Deutschland stolz zu sein, müsste sich noch einiges ändern ...
Das Probem beim Gerede vom "deutschen Volk" bei Pegida und einem Höckes liegt für mich darin, dass damit Deutsche anderer Weltanschauung aus dem Volk ausgeschlossen werden. Wenn er predigt: "Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung und Gemütszustand immer noch der eines total besiegten Volkes." grenzt er alle Exildeutsche aus, welche auf Seiten der Allierten kämpften und eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau spielten und alle deutschen Juden. Besiegt wurde das dritte Reich, Nazideutschland und seine Anhänger. Der Begriff "deutsches Volk" wie er ihn verwendet, fusst auf der völkischen Lehre und der Nazi-Ideologie.
Vor allen Dingen verdeutlicht es auch, was für autoritäre Ideologien in der AfD stecken. Höcke stilisiert sich zu einem Führer, welcher die Gefühle und den Gemütszustands des "Volks" kennt und dies in Politik umsetzen will. Anti-demokratische (nicht funktionisfähige) Verfahren, wie die von der AfD geforderten Volksabstimmungen, tragen genau dazu bei. Es geht ihnen um nicht viel weniger, als autoritäre, rassistische Politik zu machen.
Obwohl die rechte Gesinnung viele Deutscher erschreckend ist, schäme ich mich nicht ein Deutscher zu sein.
Ich bin aber stolz auf meinen Grossvater. Dieser (bis 1939 Bürger der freien Stadt Danzig) war überzeugter Sozialdemokrat, erhielt von den Nazis Berufsverbot und wurde im Krieg zum Bewährungsbataillon 999 eingezogen.
Vielleicht bin ich eines Tages auch stolz darauf Deutscher zu sein, wenn wir diese Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit und falscher Nationalismus wieder Konjunktur haben, gemeinsam überwunden haben.
Ich habe mir mal Videos mit Reden von Hitler und Göbbels reingezogen. Das ist schon erschreckend, wie die das Volk manipuliert haben. Noch glaube ich, haben wir genug politische Bildung, um ein derartigen Entwicklung in Deutschland entgegenzuwirken.
Viele Junge sind aber wenig an Politik interessiert und es fehlt auch an politischen Persönlichkeiten wie Ebert und Stresemann in der Weimarer Republik und Adenauer, Schmidt, Brandt und Genscher in der Bundesrepublik. Bei Politikern wie Seehofer und Gabriel bekomme ich das Kotzen.
Dieser Stolz setzt nicht direkt andere herab, aber er wirkt ausgrenzend.
Wenn Du abgrenzend sagst, drückt es eher mein Gefühl aus. Ja, meine Zugehörigkeit zu einem Volk, meine Nationalität grenzt mich automatisch von anderen Völkern ab, so wie mich meine Zugehörigkeit zu meiner Familie mich vom Nachbarn abgrenzt.
Zitat:
Patriotismus unterscheidet sich jeweils von Land zu Land. Bspw. in Frankreich wird ein stärkerer Verfassungspatriotismus gelebt, während wir in Deutschland von einem ethnischen Patriotismus ausgehen können. ... Dies ist eng verbunden mit der Staatsbürgerschaft. Das deutsche Konzept ist ein ethnisches, während wir in Frankreich von einer territorialen Staatsbürgerschaft sprechen. Der FN wurde in Frankreich u.a. deshalb als rechtsextrem bezeichnet, weil er für eine ethnische Staatsbürgerschaft eingetreten ist.
Beide Staaten kennen aber kaum den eigentlich wesentlichen Unterschied zwischen Staatsbürgerschaft und Nationalität. Nur letzteres drückt meine Zugehörigkeit zu einem Volk aus. Staatsbürgerschaft ist tatsächlich austauschbar oder besser frei wählbar, die Nationalität bekommt man für immer mit der Muttersprache und Sozialisierung mit. Ethnische Staatsbürgerschaft ist insofern für mich insofern nicht rechtsextrem, sonder einfach unsinnig und realitätsfern, da dann z.B. ganz Südtirol keine Italienische Staatsbürger mehr haben könnte (und was macht Frankreich mit den Basken? und Deutschland mit den Dänen?). Ethnisch reine Länder gibt es kaum noch auf der Welt.
Zitat:
Identität besteht nicht nur aus "Abstammung". Viele Migranten würden sich selbst als Deutsche bezeichnen.
Was bedeutet das genau "Deutscher"? Ich bin selbst "Migrant", der mit 1/4 deutschen Vorfahren, aber als Ungare aus Siebenbürgen hierherkam. Ich bin natürlich deutscher Staatsbürger, und mein Sohn, der hier geboren wurde, ist selbstverständlich Deutscher, da sowohl seine erste Muttersprache als auch seine Sozialisierung deutsch ist. Ich selber bleibe aber Ungare, daran kann ich nichts ändern, allein weil Ungarisch meine erste Muttersprache ist. Trotzdem gehöre ich nach 37 Jahren hierher, bin hier zu Hause und fühle mich perfekt aufgenommen und integriert, so daß ich eine "zweite Identität" entwickelt habe, die aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Land, diesen Orten und Menschen gespeist wird, wie auch aus der Einbindung in das Leben hier.
Zitat:
Über deinen letzten Satz kann ich leider nur den Kopf schütteln, aber du scheinst ein konservatives Weltbild zu pflegen - es sei dir gelassen.
Danke, großzügig
Zitat:
Ich meinerseits pflege ein fortschrittliches Weltbild und identifiziere mich nicht über meine "Abstammung" oder Kultur. Klar, Kultur prägt mich und ich pflege auch manche Traditionen (bspw. haben meine Freundin und ich uns zum 6. Januar beschenkt, wie in Spanien üblich [vor allen Dingen, da es uns zeitlich besser gepasst hat]), betrachte Kultur allerdings als wandelbar....
Ich sehe darin keinen Fortschritt, die eigene Herkunft und Kultur als beliebig und wandelbar anzusehen wie ein paar Laufschuhe, eher einen Mangel an Halt im Leben. Wenn Du damit persönlich glücklich bist, sei es Dir gegönnt; einen Gewinn für die Menschheit sehe ich in dieser Haltung nicht.
__________________
“If everything's under control, you're going too slow.” (Mario Andretti)
Ich sehe darin keinen Fortschritt, die eigene Herkunft und Kultur als beliebig und wandelbar anzusehen wie ein paar Laufschuhe, eher einen Mangel an Halt im Leben. Wenn Du damit persönlich glücklich bist, sei es Dir gegönnt; einen Gewinn für die Menschheit sehe ich in dieser Haltung nicht.
Für den Rest bin ich gerade leider zu müde, deshalb nur kurz:
Ich habe nicht behauptet, dass meine "Kultur", meine Sozialisation wandelbar sei, sondern nur, dass "Kultur" in einem größeren Rahmen wandelbar ist. "Deutsche Kultur" ist heute nicht die selbe wie vor 150 Jahren und wird in nochmal 150 Jahren wieder anders sein. Meine Sozialisation ist von wesentlich mehr Faktoren abhängig als einem nationalen (künstlichen) Rahmen.
Meine Sozialisation ist zu großen Teilen abgeschlossen, beeinflusst von vielen unterschiedlichen Dingen. Meine doppelte Staatsbürgerschaft trägt mit Sicherheit dazu bei, dass ich mich keiner "Ethnie" oder ähnlichem zuschreibe. Geprägt hat mich viel, ein Teil davon war mit Sicherhheit die "spanisch" und "deutsch" // europäische Kultur. Aber eben nur ein Teil.