Zitat:
Zitat von KalleMalle
Vielleicht könntest Du nochmal kurz zusammenfassen, welche Werte dem Christentum zugeordnet sind.
|
Dem Christentum sind überhaupt keine modernen/europäischen staatsrechtlichen Elemente zugeordnet. Auch keine Persönlichkeitsrechte.
Der Mensch der Bibel ist rechtlos. Es steht dem Menschen überhaupt nicht zu, irgendwelche Rechte zu haben. (Hiob 38) Wozu auch; will etwa jemand DEN HERRN verklagen? Vor welchem Gericht?
Das Alte Testament ist in weiten Teilen ein Gesetzbuch, das bestimmte Eigentumsfragen klärt und daraus gelegentlich Verhaltensregeln ableitet (Frauen müssen sich so-und-so verhalten, weil sie das Eigentum von dem-und-dem sind).
Aber dies war trotzdem kein Individualrecht, sondern im Vordergrund stand das Sippenrecht. Denn die alten Götter waren ja Donner- und Wettergötter, und die kümmerten sich logischerweise nicht um das einzelne Individuum. Es regnet und donnert ja für alle gleich. Auch Jahwe ist folglich der Gott einer bestimmten Sippe, ausgehend von einer bestimmten Region. Das Individuum ist ihm schnuppe. Der "persönlich liebende Gott" (personal loving God) war noch nicht erfunden.
Für die Sünden der Einzelnen wird daher die ganze Sippe bestraft; und für die Sünden der Sippe wird gelegentlich ein Einzelner getötet (am besten einen Unschuldigen, weil das ein besonders "reines" Opfer darstellt -- wer will schon einen ungewaschenen Verbrecher als Opfer, igitt). Ein Rechtssystem, das vom
Individuum ausgeht und dieses schützt, war den Autoren unbekannt. Man erkennt das an der Arche Noah: Gott bringt aus einer Laune heraus alle Menschen und Tiere um, Einwände sind zwecklos, persönliche Schuld/Unschuld ist irrelevant (man denke an die Kinder).
Die Bibel klärt über das Sippenrecht hinaus gewisse
Eigentums- und Sachfragen, beispielsweise, wenn Du eine Ziege findest, dann sollst Du sie bei Dir unterstellen, bis der Eigentümer kommt, und er muss Dir das Futter bezahlen; bezahlt er es nicht, wird die Ziege verkauft/geschlachtet, und jeder erhält seinen Anteil. (Dies hat angeblich der Schöpfer der Welt verfügt.)
Man muss dabei bedenken, dass die Siedlungen und "Städte" meist nur hundert bis dreitausend Häuser oder Zelte hatten; heute würde man sie als Dörfer bezeichnen. Von ordentlichen Gerichten oder einem organisiertem Staatswesen hatte man noch nichts gehört, bis die Römer kamen. Das Alte Testament endet bei dieser Entwicklungsstufe.
Europa, zumal das moderne Europa, könnte nicht weiter entfernt sein. In Europa kann ein Individuum den ganzen Staat verklagen und Recht bekommen. Das bedeutet, dass auch der Gesetzgeber in seiner Macht beschränkt ist und verklagt werden kann. Dies widerspricht der ganzen Logik des Götterglaubens. Man kann Gott nicht verklagen.
-----
Das Neue Testament verschiebt den Fokus von der Sippe auf das Individuum. Die Erfindung des "Jesus" folgt einem neuen Trend der umliegenden Regionen, nämlich dem des "persönlich liebenden Gottes".
Aber das Neue Testament führt kein neues Rechtssystem ein. Wozu auch, denn die Botschaft des Neuen Testaments besteht ja darin, dass die Welt bald enden und sich Gottes Reich
auf die Erde herabsenken würde. Es ging also darum, die bestehenden Gesetze zu erfüllen, sich vorzubereiten, und nicht darum, ein modernes Rechtssystem zu schaffen.
Das bedeutet: Wer von vom europäischen Rechtssystem als Folge des Christentums spricht, spricht vom Alten Testament. Denn das Neue Testament gibt nichts her.
Ich würde eine Ausnahme machen. Das deutsche Recht geht nicht von Rache aus, sondern sieht die Möglichkeit der Versöhnung, Wiedergutmachung und Wiedereingliederung. Dies kann man mit viel Mühe als ein christliches Erbe ansehen.
Im Alten Testament geht es um Rache. Im Neuen Testament geht es teilweise um Versöhnung, vorausgesetzt, man gehört zur Sippe, und vorausgesetzt, man ignoriert das Johannes-Evangelium mit seinem rasenden Hass auf Andersdenkende. Aber da wir ja jeden Krümel suchen, ist hier ein Krümel zu finden. Nur: Verwirklicht wurde es in den "christlichen Zeiten" nie, weder von Jesus, noch von Petrus oder einem seiner selbsternannten Nachfolger. Verwirklicht haben es säkulare Gelehrte, nachdem das Christentum entmachtet worden war.
-----
Der spätere Katholizismus sieht sich in der Position der göttlich legitimierten Alleinherrschaft. Deswegen braucht er kein Rechtssystem zu schaffen, abgesehen von ein paar internen Verwaltungsvorschriften. Jedenfalls will er vom Pöbel nicht verklagt werden. Eine Systematik ist nicht notwendig, denn göttliche Willkür (immer so, wie's einem grad passt) ist viel geschickter.
Aus diesem Grund endete mit dem Christentum das teilweise ausgefeilte Rechtssystem der Griechen und Römer. Stattdessen ahmte es die spätrömische und (im Anschluss) europäische Feudalherrschaft nach. Das Ziel war nicht Gerechtigkeit, sondern eigene Bereicherung. Wenige Jahre, nachdem das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde, gehörte der Kirche bereits 20% allen Grundbesitzes, war damit der größte und reichste Grundbesitzer geworden und verfügte über den größten Bestand an Sklaven im gesamten römischen Imperium (um das Jahr 450-500).
Man beachte, dass viele Bischöfe gleichzeitig auch Landesfürsten waren, d.h. sie besaßen die Befugnis, Steuern zu erheben und Recht zu setzen. (Dies soll dem Einwand vorbeugen, die Kirchen hätten ja gar keine Gesetze erlassen können.)
-----
Wegen all dem bin ich sehr sicher, dass niemand auch nur einen Krümel der europäischen Freiheitsrechte in den christlichen Schriften finden wird, außer vielleicht den Gedanken der Wiedereingliederung von Straftätern (dies ist jedoch kein Freiheitsrecht).