Ich habe die letzten Tage über dieses Zitat nachgedacht. Würde ich dem Mythos von der unbefleckten Gottesmutter erst widersprechen, wenn dieser als Fakt ausgegeben wird? Oder würde ich auch widersprechen, wenn es nicht als Fakt, sondern als Mythos ausgegeben wird? Wie ließe sich mein Widerspruch rechtfertigen?
Natürlich kann jeder denken, was er will. Solange es Gedanken sind, und seien es Gedanken an eine Gottesmutter, ist es erstens harmlos und zweitens kann man Gedanken ohnehin nicht verbieten.
Nehmen wir einen frei erfundenen Roman, der für einen bestimmten Leser eine tiefe Lebensweisheit enthält, oder bei dem sich eine der Figuren vorbildlich verhält. Hier stellt sich die Frage nach der Wahrheit überhaupt nicht. Auch hier wird niemand Kritik üben, wenn sich ein Leser an den Weisheiten des Romans orientiert.
Aber irgendwas stimmt nicht mit dieser Logik.
Nehmen wir erneut die unbefleckte Jungfrau. Dahinter steckt die Idee, speziell Frauen seien „befleckt“ und unausweichlich verdorben. Nehmen wir einen Priester, der diese Idee unters Volk bringt, stets verbunden mit dem Hinweis, dies sei nur eine spirituelle Vorstellung ohne Anspruch auf Faktizität, sondern es sei etwas, was „über“ den Fakten angesiedelt sei. Soll man hier widersprechen?
Ich finde, man sollte widersprechen. Man sollte erkennen, welch hinterhältige Idee hinter der Geschichte steckt, und was sie bei den Menschen bewirkt. Ich finde, sobald private Gedanken ausgesprochen werden, sind sie nicht mehr völlig privat, sondern sie entfalten eine Wirkung.
Natürlich darf jeder glauben, was er will. Aber man darf ebenso kritisieren, was man will. Die Schwelle, ab der man kritisiert, wird bei jedem unterschiedlich ausfallen; aber ich finde es plausibel, auch Gedanken zu kritisieren, die keine faktische Wahrheit beanspruchen, sofern diese Gedanken das Potenzial haben, Schaden anzurichten.
Gerade in diesem Thread konnte man immer wieder lesen, dass Wahrheit für manche Leute kein Kriterium darstellt. Also kann Wahrheit auch kein Kriterium dafür sein, ob man Kritik übt. Man kann auch Gedanken, Ideen und Mythen kritisieren.
In der Praxis wird man stets abwägen, ob sich der Widerspruch lohnt, abhängig vom Thema, von der Situation oder der Person. Ich würde mir jedoch wünschen, dass jeder Pfarrer aus Erfahrung weiß, dass er einen Satz mit irgendeinem Jungfrauen-Gefasel nicht zu Ende bringen kann, weil man ihn sofort unterbricht. Dabei geht es nicht um die Frage, was in der Bibel steht, oder was es für ihn persönlich bedeutet, sondern darum, was es
für die Frauen bedeutet.
Wie seht Ihr das?