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Hier das Interview:
An der Uniklinik Dresden koordiniert Jakob Armann für die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie mehrere Surveys zu Corona bei Kindern. Im Interview spricht er über die aktuellen Zahlen und beklagt eine verzerrte Risikowahrnehmung und -kommunikation, geht es um Coronafolgen für Kinder und Jugendliche.
Thomas Trappe
von Thomas Trappe
veröffentlicht am 22.07.2022
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Herr Armann, als wir das letzte Mal miteinander sprachen, ging es um die ersten Zwischenergebnisse von drei Surveys zu Corona bei Kindern. Laufen diese Surveys noch?
Jein. Es gibt einen Survey für Kinder und Jugendliche, die mit Corona hospitalisiert wurden, der läuft. Ebenso der PIMS-Survey, also zum Hyperinflammationssyndrom nach einer Corona-Infektion. Der Post-COVID-Survey ist etwas eingeschlafen.
Okay, warum? Long COVID bei Kindern ist ja ein vieldiskutiertes Thema?
Offenbar aber nicht bei der Mehrheit der niedergelassenen Kinderärzte, von denen wir die Daten für den Survey ja bekommen. In den Kinderarztpraxen scheint Long COVID nicht die entscheidende Rolle zu spielen, die dem Thema in den Medien teilweise zugeschrieben wird. Der Survey läuft weiter, aber mit den Meldezahlen kann man nicht sonderlich viel anfangen. Dafür gibt es aber regionale Auswertungen, auf deren Grundlage wir Aussagen treffen können. Und natürlich auch aus unserer klinischen Praxis hier in Dresden, wo wir eine Long-COVID-Ambulanz betreiben. Zudem haben wir seit diesem Frühjahr eine tagesaktuelle Erfassung der Auslastung der Kinderkliniken durch Kinder und Jugendliche mit einer SARS-CoV-2-Infektion.
Und was zeigen die Daten?
Dass die Kinderkliniken durch Corona-Patienten definitiv nicht überlastet sind und dort auch keine Verdrängung durch Corona stattfindet, die zu einer Nichtbehandlung anderer Erkrankungen führt. Auf dem Höhepunkt der Omikron-Welle, also bei wahnsinnig hohen Infektionszahlen, wurde im Schnitt ein Patient mit einer SARS-CoV-2-Infektion pro Kinderklinik aufgenommen. Das hat die Kinderkliniken nicht beeinträchtigt. Was sie beeinträchtigt: Der Ausfall von Personal, was wiederum hauptsächlich an den Isolations- und Quarantäneregeln liegt.
Wie viele der Kinder wurden wegen SARS-CoV-2 aufgenommen, also bei wie vielen war es nur eine Diagnose, die im Zuge des Krankenhausaufenthaltes stattfand?
60 Prozent der Kinder kamen wegen Corona ins Krankenhaus, die anderen wegen etwas anderem. Nur ein Bruchteil der wegen Corona eingewiesenen Kinder war schwer krank, im Schnitt wurden alle nach zwei Tagen entlassen. Es ging vor allem um Atemwegsinfektionen. Aber nochmal: Es waren am Ende einfach relativ wenige Fälle für eine Hochinzidenzphase.
Ein Argument im vergangenen Herbst war immer, dass man nicht wisse, wie sich die Situation in den Kinderkliniken darstellt, wenn sich in einer Welle massenhaft Kinder infizieren. Hatten wir dieses Szenario jetzt mit der Omikron-Welle?
Ja, den Punkt haben wir inzwischen überschritten. Aus unser Schulstudie in Ost-Sachsen wissen wir, dass sich zwischen November 21 und April 22 mehr als 50 Prozent der Kinder angesteckt haben. Bei gut über 90 Prozent der Kinder haben wir Antikörper, sei es durch Impfungen oder Infektionen oder durch beides. Das heißt nichts anderes, als dass wir jetzt einmal durch sind bei den Kindern. Es gibt Re-Infektionen, keine Frage, aber es gibt praktisch keine immunnaive Population mehr.
Vor einem Jahr hatten viele Eltern große Angst vor PIMS. Haben sich Ihre damaligen Erkenntnisse bestätigt, dass es sich bei PIMS zwar um eine schwere Erkrankungsfolge handelt, die aber in der Häufigkeit vergleichbar ist mit anderen hyperinflammatorischen Syndromen?
Damals zeichnete sich ab, dass PIMS ungefähr genauso häufig auftritt wie das sogenannte Kawasaki-Syndrom, das wir in Deutschland ungefähr 500 bis 600 Mal pro Jahr diagnostizieren. Beim Corona-Wildtyp und mit der Alpha-Variante war ungefähr eines von 4000 Kindern von PIMS betroffen. Unter Delta sank das Risiko auf ein Fünftel. Und unter Omikron ist es 15-fach niedriger im Vergleich zum Wildtyp. Das heißt, im Moment liegt das Risiko zwischen 1:40.000 und 1:80.000. Das ist extrem gering und bezieht sich zudem auf Kinder, die immunnaiv sind – die es kaum noch gibt. Pro Woche haben wir derzeit ein bis zwei PIMS-Meldungen aus ganz Deutschland.
Ist die Krankheitsschwere vergleichbar mit dem Kawasaki-Syndrom?
Beim Kawasaki-Syndrom kommen die Kinder seltener auf die Intensivstation. Dafür sind die langfristigen Folgeschäden bei PIMS aber geringer. Die PIMS-Kinder, zu denen wir Daten haben, sind nahezu alle wieder komplett gesund.
Ihre Klinik und die Verbände der Kinderärzte haben es geschafft, in wenigen Wochen mehrere Datenbanken zu Corona bei Kindern aufzubauen, mit denen man jetzt arbeiten kann. Es scheint also kein Hexenwerk zu sein. Warum tut man sich in Deutschland dann so schwer, Daten zu Corona zu sammeln, etwa dazu, ob Patienten mit oder wegen Corona in Kliniken liegen? Haben Sie dafür eine Erklärung?
Richtig verstehe ich es nicht. Natürlich benötigt ein verpflichtendes – über das Bundesgesundheitsministerium oder das Robert Koch-Institut organisiertes – Register mehr Vorlauf als ein freiwilliges über eine Fachgesellschaft organisiertes. Und es ist klar, dass das bei bundesweiten offiziellen Datensammlungen vieles komplizierter ist. Aber dass es in vielen Bereichen gar nicht funktioniert, ist schon sehr ärgerlich. Zumal wenn man weiß, was für politische Maßnahmen oft mit gefühlten Wahrheiten begründet werden, die mit Daten nicht hinterlegt sind.
Mit Blick auf eventuell wieder einzuführende Corona-Maßnahmen im Herbst an Schulen wird heute oft auf das Long-COVID-Risiko verwiesen. In der sächsischen Schulstudie zeichnete sich vergangenes Jahr ab, dass Kinder, die nicht mit Corona infiziert waren, ungefähr genauso häufig von typischen Symptomen berichteten wie solche mit einer Infektion – was dafür sprechen könnte, dass Lockdowns und Schulschließungen zu ähnlichen Belastungen bei Kindern führten wie die Erkrankung an sich. Was können Sie heute dazu sagen?
Bei der Studie fragen wir zehn Symptome ab, und bis heute haben wir keinen signifikanten Unterschied im Antwortverhalten von Infizierten und Nicht-Infizierten. Seit Herbst erheben wir auch den Impfstatus, auch da zeigen sich keine Unterschiede zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften. Erschreckend finde ich aber, dass die abgefragten Symptome zugenommen haben, dass also etwa ein Drittel der Kinder diese angibt, Genesene wie Nicht-Infizierte. Unsere Daten passen zu zwei großen Studien aus Dänemark und aus Norwegen, die die gleiche Fragestellung hatten und zum gleichen Ergebnis kamen. Entscheidend ist aber, und das ist dann wieder beruhigend: Wir sprechen nicht von sich verfestigenden Symptomen. Im Schnitt waren die persistierenden Symptome bei Kindern nach einer Corona-Infektion nach etwa fünf Monaten verschwunden. Long COVID bedeutet also für Kinder, die daran leiden, in aller Regel keine dauerhaften oder gar lebenslangen Folgen. In Einzelfällen kann das anders sein. Aber das gilt für jede Krankheit, die wir bei Kindern kennen.
Auch wenn es die mit Long COVID assoziierten Symptome sowohl bei Kindern mit als auch jenen ohne vorherige Corona-Erkrankung zu geben scheint: Gibt es trotzdem spezifische Ausprägungen der Symptome bei den Kindern mit einer vorangegangenen Infektion?
Ich will das nochmal betonen, um Missverständnisse auszuschließen: Die vorhandenen Studien zeigen ganz klar, dass es Long COVID in Folge der Erkrankung auch bei Kindern gibt. Es gibt aber solche persistierenden Symptome oder infektionsassoziierten Folgeerkrankungen eben auch bei praktisch allen anderen (Virus-)Infektionen. Ein Großteil der nicht an Corona erkrankten Kinder mit Long-COVID-typischen Symptomen dürfte andere Infektionen im Vorfeld gehabt haben, Lockdown-Folgen sind eine zusätzliche Erklärung. Kinder, die kein Corona hatten, litten in der norwegischen Studie zum Beispiel häufiger unter Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen und langanhaltendem Husten. Bei COVID-Genesenen waren es häufiger Fatigue sowie Geruchs- und Geschmacksstörungen. Es gibt also spezifische langanhaltende Reaktionen bei Corona, aber keine, die sich ganz grundsätzlich von jenen unterscheiden, die wir von anderen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen kennen. Auch nicht in der Häufigkeit.
Eine große Unbekannte ist ja aber nach wie vor, in welchen Organen Coronaviren Schäden anrichten können. Es ist ja nicht nur eine Atemwegsinfektion.
Wir hatten schon immer Kinder, bei denen zum Beispiel Entzündungen im Gehirn durch Atemwegs-Viren ausgelöst wurden. Es gibt Atemwegs-Viren, die eine Entzündung der Hüfte auslösen, den sogenannten Hüftschnupfen – der ist gar nicht mal so selten. Es gibt Nierenbeteiligungen nach Atemwegsinfektionen, ja, sogar Schlaganfälle. Wir lernen nun mit Corona ganz viele Sachen neu, die wir schon längst wussten. Deshalb war es für uns Kinderärzte auch nie die Frage, ob es Long COVID gibt, sondern nur, wie sich diese Folgeerkrankung ausprägt. Und da unterscheidet es sich im Ausmaß nicht wirklich grundsätzlich von Long Influenza, Long Adenoviren, Long Enteroviren und was wir sonst noch alles haben. Deshalb verstehe ich als Kinderarzt nicht das Bestreben vieler Eltern, dass ihr Kind alles Mögliche an Krankheiten bekommen darf, nur nicht Corona. Das ist aus pädiatrischer Sicht fast schon irrational.
Eine große Rolle spielt für die Risikoeinschätzung natürlich auch die Pandemiekommunikation. Als Klinikarzt, der sehr häufig mit Ängsten und Befürchtungen von Eltern konfrontiert ist – wie beurteilen Sie die Kommunikationsleistung der Regierung?
Wir brauchen einen pragmatischen Umgang mit Corona, einer Krankheit, die nicht mehr verschwinden wird. Das ist die Basis, auf die sich die meisten wohl verständigen können. Vor diesem Hintergrund finde ich aber die differierenden Signale der Bundesregierung hochproblematisch. Auf der einen Seite werden seit März die Maßnahmen zurückgefahren – was ich grundsätzlich richtig finde. Auf der anderen Seite überschlagen sich andere aber in Warnungen vor dem Herbst, vor Long COVID und vor der tödlichen Gefahr, die auf uns alle lauert. Das ist geradezu schizophren. Das kommt dann auch bei den Kinderärzten an und, viel schlimmer, bei den Kindern. Aufgabe der Politik müsste es doch sein, einen Ausgleich zu schaffen. Das passiert aber nicht. Deshalb habe ich auch extreme Bauchschmerzen mit Blick auf den Herbst.
Warum?
Weil jetzt wie ein Mantra wiederholt wird, man wolle die Schulen „sicher“ machen, um sie offen halten zu können. Ich halte das nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre für ein Lippenbekenntnis. Am Ende droht es wieder auf Masken und anlasslose Tests bei Kindern hinauszulaufen, einfach, weil das am leichtesten durchzusetzen ist. Wenn getestet wird, wird man natürlich auch wieder wellenweise überdurchschnittlich hohe Inzidenzen in dieser Altersgruppe haben, weil sie ja die einzige ist, bei der man das flächendeckend macht. Und dann ist fast vorhersehbar, dass es zwar nicht zu flächendeckenden Schulschließungen kommt, aber zu punktuellen, die ebenso schädlich für die Kinder sind. Wir bewegen uns also auf ein Szenario zu, in dem ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, für die Corona am ungefährlichsten ist, der strengsten Überwachung und den restriktivsten Maßnahmen unterliegt. Das ist nicht konsistent und vor allem schädlich. Wenn man weiß, wie wichtig Schule und auch sämtliche anderen sozialen Aktivitäten für Kinder und Jugendliche sind, dann muss man dies als Gesellschaft auch ermöglichen. Indem man sehr genau abwägt, mit welchen Schutzmaßnahmen man den Schulbetrieb und alles drumherum ausbremst. Diese Bereitschaft sehe ich bislang aber leider keineswegs.
Herr Armann, vielen Dank für das Gespräch!
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