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Alt 01.12.2020, 09:55   #16297
Klugschnacker
Arne Dyck
triathlon-szene
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Wir machen uns etwas über Frau Käßmann lustig. Das ist von meiner Seite aus nicht böse gemeint, schließlich tut sie ja keinem etwas. Ernst genommen wird sie von theologischer Seite nicht. Sie ist eine erfolgreiche Autorin populär-erbaulicher, volksfrommer Texte. Da gibt es wirklich schlimmeres.


Die von ihr berührte Frage hat es aber in sich. Warum erleiden gute Menschen schlimme Schicksale? Warum überlebte Hitler hingegen drei Attentate? Wie rechtfertigt ein allmächtiger und nicht steigerbar guter Gott das Leid auf der Welt?

Das massenhafte, unverschuldete Leid ist ein direkter, empirischer Beweis gegen die Vorstellung des christlichen Gottes. Damit sollte sich Käßmann meiner Meinung nach ernsthaft auseinandersetzen.
Klugschnacker ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2020, 12:40   #16298
waden
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Zitat:
Zitat von Klugschnacker Beitrag anzeigen
Das massenhafte, unverschuldete Leid ist ein direkter, empirischer Beweis gegen die Vorstellung des christlichen Gottes. Damit sollte sich Käßmann meiner Meinung nach ernsthaft auseinandersetzen.
Dazu klingt mir der Satz aus vielen Jahren Religionsunterricht und Gottesdiensten im Ohr: "die Wege des Herrn sind unergründlich; und wer bin ich, zu beurteilen, welche Mittel er ergreift, um uns zu prüfen"

Am Montag letzter Woche kam ja im ZDF Schirachs Stück "Gott" mit Livevoting zum Thema Sterbehilfe. In dem Dialog zwischen dem Anwalt und dem Theologen sprach der sehr überzeugend argumentiernde Anwalt der katholisch-christlichen Kirche einerseits das Recht ab, als moralische Instanz für die ganze Gesellschaft aufzutreten, andereseits erkannte der Anwalt die persönliche Argumentation des Theologen zum unbedingten Wert des Lebens auch als beeindruckend an. Das fand ich berührend. - Wobei er darauf hinweis, dass das eine persönliche Haltung sei, die auf einem Glauben beruhe, der nicht Basis der Gesetze der Gesellschaft sein könne. Dem wiederum widersprach der Theologe nicht.
Ein sehenswertes Stück (lesenswertes Buch).
waden ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2020, 13:38   #16299
Klugschnacker
Arne Dyck
triathlon-szene
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Zitat:
Zitat von waden Beitrag anzeigen
... andereseits erkannte der Anwalt die persönliche Argumentation des Theologen zum unbedingten Wert des Lebens auch als beeindruckend an.
Der Natur ist der unbedingte Wert des Lebens unbekannt. Tiere fressen sich gegenseitig bei lebendigem Leibe. Selbst hochentwickelte Pflanzenfresser wie bestimmte Primaten schlagen regelmäßig alle Kinder des Weibchens tot, das sie soeben durch den Mord des Vaters erobert haben. Die Natur ist gegenüber dem Wert des Lebens absolut gleichgültig, außer bei den eigenen Nachkommen eines Geschöpfes.

Aber bereits ein frisch geschlüpftes Vogelküken, das noch keine Federn hat und blind ist, kann das unausgebrütete Ei seines Geschwisterchens aus dem Nest schubsen, und tut das auch regelmäßig. Es erhöht damit die eigenen Überlebenschancen. Ein parasitärer Wurm, der sich durch den Augapfel eines noch ungeborenen menschlichen Babys frisst, ist genauso wie der Gorilla oder das Vögelchen ein Geschöpf Gottes.

Ein Theologe, der den "unbedingten Wert" des Lebens beruft, äußert lediglich seine eigene Meinung. Auf den christlichen Gott kann er sich dabei nicht berufen. Auch nicht auf die Bibel. Denn in ihren Erzählungen tötet Gott zahlreiche Menschen, und zwar überwiegend deshalb, weil sie an andere Götter glaubten. Gott tötete nach christlicher Vorstellung sogar seinen eigenen Sohn als Blutopfer.

Der Theologe kann sich auch nicht auf die katholische Kirche berufen. Diese war die meiste Zeit ihrer Geschichte für die Todesstrafe, und zwar bereits für rein geistige Vergehen. Die evangelikalen Kirchen sind weltweit am stärksten in den USA, wo es heute noch die Todesstrafe gibt.

Der "unbedingte Wert" des irdischen Lebens ist nicht nachvollziehbar für eine Religion, die im Tod den Übergang ins Himmelreich sieht. Der Mensch stirbt, bereut vorher seine Sünden und ist dann auf ewig im Paradies. Was könnte es besseres geben?

Mir scheint, diese Paradoxie hat folgende Erklärung:

Bei der Debatte um die Sterbehilfe geht es eigentlich um Abtreibungen. Selbst Zellklumpen mit wenigen hundert Zellen werden zu einem Menschen erklärt. Zum Vergleich: Das Gehirn einer Stubenfliege hat 100.000 Zellen. Der Hintergrund für diese strikte Haltung ist aus meiner Sicht die Sexualfeindlichkeit der Kirchen. Dazu passt die neurotische Ablehnung von Verhütungsmitteln, die einem sexuell normal entwickelten Menschen nicht mehr verständlich zu machen ist.

Die heute in modernen Gesellschaften sich entwickelnde Ethik ist wesentlich komplexer, als einfachste Regeln aus der Antike wie "Du sollst..." oder "Du sollst nicht...". Wir machen einen Unterschied zwischen einem Mord, einer Sterbehilfe und einer Abtreibung.
Klugschnacker ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2020, 15:36   #16300
waden
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Da widerspreche ich Dir insgesamt nicht.
In Schirachs "Gott" geht es allerdings nicht um Abtreibung, sondern um die Tötung auf Verlangen eines zwar alten, aber nicht todkranken Menschen und dabei insbesondere die Frage, ob ein Arzt hierzu das Medikament überreichen darf.

Der Anwalt fragt den Theologen durchaus, warum die Religion sich mit ihrer Historie (zuletzt Verweigerung von Frauenrechten, Vertuschung der Kindesmisshandlung) überhaupt noch erlaube, als moralische Instanz für die gesamte Gesellschaft aufzutreten. Aber das persönliche Bekenntnis des Kirchenmannes ist dann doch berührend und individuell nachvollziehbar. Und das gefällt mir, bei aller argumentativer Klarheit der Gegenhaltung. Und mir gefällt auch, dass der Anwalt entgegnet, dass das persönlich berührend und (falls ich mich recht erinnere) imponierend sei - wenngleich es keine normative Kraft für die Gesellschaft haben könne, sondern eben nur für diejenigen, die gerade daran glauben.

(Vielleicht findest Du die Gelegenheit, das Stück zu sehen oder zu lesen. Es ist bemerkenswert, wie Schirach hier die Argumentate vorträgt. Nach der Sendung des Stücks gab es eine Plasbergsendung dazu, und ich fand beeindruckend, dass keine Argumente über die bereits im Stück verhandelten hinaus genannt wurden. Das spricht für den literarischen Text)
waden ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2020, 23:08   #16301
Klugschnacker
Arne Dyck
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Zitat:
Zitat von waden Beitrag anzeigen
Aber das persönliche Bekenntnis des Kirchenmannes ist dann doch berührend und individuell nachvollziehbar.
Niemand hat etwas dagegen, wenn der Kirchenmann für sich persönlich jede Form der Sterbehilfe ablehnt. Es steht im frei, auf Sterbehilfe unter allen Umständen zu verzichten. Als Begründung für diese private Entscheidung kann er von mir aus anführen, der Schöpfer des Weltalls habe sich entsprechend mitgeteilt.

Jedoch geht es ihm gar nicht um seine private Einstellung. Sondern er möchte, dass auch alle anderen Menschen gemäß seiner Präferenzen handeln. Alle anderen Menschen sollen darauf verzichten, über ihr eigenes Lebensende zu bestimmen. Und er will, dass der Staat entsprechende Gesetze erlässt, die für alle gelten.

Eine Begründung dafür liefert er nicht, sondern verweist auf seinen Glauben. Dieser Glaube enthalte ethische Prinzipien, an die er gebunden sei. Folglich könne er an einer Debatte, die Für und Wider abwägt, nicht mit Offenheit teilnehmen.

Letzteres ist aber nicht wahr, sondern eine Immunisierung vor Gegenargumenten. Der christliche Glaube hat in seinen Fundamenten keine verbindlichen Aussagen zur hier debattierten Selbsttötung und zur Beihilfe zur Selbsttötung. Das wird lediglich behauptet, solange es nützlich erscheint. An anderer Stelle wird durchaus getötet, in der Bibel sogar von Gott selbst.

Eine identische Haltung gibt es bei der Stellung der Frau in der katholischen Kirche. Auch hier wird kirchlicherseits so getan, als habe man sich festen christlichen Grundsätzen zu unterwerfen. Folglich könnten Frauen keine höheren Ämter in der Kirche bekleiden, auch wenn der moderne Zeitgeist dies bedauern mag. Auch hier handelt es sich nur um eine Behauptung. Der Verweis auf christliche Grundsätze ist eine Immunisierung vor Gegenargumenten.

Dieses Grundmuster findet man in den Kirchen an zahlreichen Stellen. Dürfen homosexuelle Menschen heiraten? In dieser Kirche ja, in jener nein. Darf eine Frau Pastorin werden? In dieser Kirche ja, in jener nein. Kommen ungetauft verstorbene Säuglinge in die Hölle? Früher ja, heute so halb. Zu fast jeder bedeutenden ethischen Frage gibt es in den christlichen Kirchen unterschiedliche Positionen, die sich auf dieselbe heilige Schrift berufen. Der vorgeblich strikte moralische Kompass des Christentums existiert in der Realität nicht. Er wird nur dort behauptet, wo man sich einem offenen Austausch von Argumente entziehen möchte.

Meiner Meinung nach ist das einer der wesentlichen Gründe, warum den christlichen Kirchen in der westlichen Welt die Mitglieder davonlaufen. Wer kann sich heute noch die Debatte in der katholischen Kirche antun, ob Frauen vom Schöpfer des Weltalls dazu bestimmt seien, den Glauben zu verkündigen? Wer erträgt noch die Behauptung, der Schöpfer wolle den Menschen lieber langsam verrecken sehen als mit einem Medikament human zu entschlafen?

Für sich selber kann der Kirchenmann das gerne machen. Sein Bestreben, das auch für alle anderen Menschen durchzusetzen, bekommt von mir keinen Applaus.
Klugschnacker ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 05.12.2020, 12:46   #16302
Jörn
Esst mehr Gemüse
 
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Beiträge: 3.499
Wie bei einem guten Zaubertrick sollte man stets jene Hand beobachten, die im Schatten agiert, und die sich nur allzu große Mühe gibt, nicht beachtet zu werden. Dort passieren die interessanten Dinge. Zudem ist es ratsam, die Prämissen zu prüfen, die dem Betrachter als derart selbstverständlich präsentiert werden, dass sie nicht weiter geprüft werden. War überhaupt eine Frau in der Kiste, bevor diese zersägt wurde? Es geht darum, dem Zuschauer die Dinge so zu präsentieren, dass sie nicht hinterfragt werden. Jene Dinge, die offensichtlich zu hinterfragen sind, sind läppisch. Im Verborgenen liegt der Trick.

Wie Arne bereits demonstriert hat, ist nämlich bereits die Prämisse falsch, die Bibel oder "das Christentum" würde stets alles Leben schützen. Diese Behauptung mag man als private Meinung abtun, immerhin gibt es viele unterschiedliche Bibelverse. Aber was ist mit Gott? Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass Gott das Leben nicht schützt, denn sonst würde niemand von uns sterben. Tatsächlich sterben aber alle, ohne Ausnahme. Dies wissen wir sicher. Der Trick besteht also darin, die Zuschauer davon abzulenken, dass wir am Ende alle sterben und dass dies ein Beweis dafür ist, dass Gott das Leben nicht schützt.

Daraus kann man lernen, dass eine völlig offensichtliche Falschbehauptung übersehen werden kann, wenn die Falschbehauptung nur monströs und dreist genug ist; einfach weil das Publikum nicht damit rechnet.

Aber es sind noch weitere Prämissen falsch, die so dreist sind, dass das Publikum es übersieht.

Wer ist überhaupt dieser Theologe, der da eifrig im Gerichtssaal doziert? Vertritt er das Gesetz? Offenbar nicht. Vertritt er das Volk? Offenbar auch nicht. Vertritt er einen Gott? Das hat er weder bewiesen noch behauptet. Dennoch sind alle der Ansicht, er täte es. Tatsächlich vertritt er keine Kirche, keine Konfession, keine alte Tradition. Trotzdem gelingt es ihm, sein Anliegen mit allergrößter Autorität vorzutragen, die es ihm sogar gestattet, sich gegen das Gesetz und den gesunden Menschenverstand zu stellen. Mit anderen Worten: Die Kiste, die er kunstvoll vor aller Augen zersägt, ist leer, aber alle sollen denken, sie sei randvoll.

Ein weiterer Trick: Die Gerichtsszene. Das Publikum erwartet, dass vor Gericht die betroffenen Parteien darüber streiten, wer recht hat. Aber vertritt der Theologe überhaupt eine betroffene Partei? Nein, das ist nicht der Fall. Er vertritt eine angebliche Gottheit, die von dem ganzen Spektakel ausdrücklich nicht betroffen ist (da unsterblich). Diese Gottheit, von der zudem niemand weiß, wo sie ist, woraus sie besteht und was sie will, befindet sich zudem nicht im Gerichtssaal und äußert sich nicht. — Warum diese Gottheit also eine Partei in einem Gerichtsverfahren sein kann, bleibt völlig nebulös.

Dennoch gelingt es dem Theologen, vorzugaukeln, es handele sich um eine faire Gerichtsverhandlung mit strikten und verlässlichen Regeln. Der Theologe trägt aber den Willen einer Partei vor, deren Wille er nicht kennt und nicht kennen kann. Auch der Gegenanwalt und der Richter können diesen unsichtbaren Zeugen nicht ins Kreuzverhör nehmen. Ebensogut könnte man einen Truthahn vor Gericht stellen (auch dies ist eine christliche Tradition). Die ganze Szene ist derart bescheuert, dass man als Zuschauer nicht damit rechnet und es erstmal akzeptiert, um zu sehen, was passiert.

Hat der Theologe wenigstens ein ehrbares Anliegen? Auch das ist eine Grundannahme, die nie geprüft wird. Im Gegenteil, die Reaktion des Gegenanwalts soll suggerieren, dass er trotz juristischer Differenzen dennoch die vorzügliche Persönlichkeit seines gläubigen Gegners wertschätze. Es wird suggeriert, der Theologe sei ein großer Humanist, stets bedacht auf größtmögliche Menschlichkeit.

Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Humanismus, also das, was für den Menschen vorteilhaft wäre, spielt beim Theologen überhaupt keine Rolle. Es wird sogar bestritten, dass dies ein mögliches Kriterium sein könnte. Sondern es geht allein darum, den angeblichen Willen Gottes auszuführen, koste es, was es wolle. Mit anderen Worten, der Theologe geht buchstäblich über Leichen. Selbst das größte Leid kann ihn nicht erweichen. Er ist ein Menschenfeind. Er akzeptiert das Leid der Schwächsten zum Lobe seines Gottes. Das Leid und die Menschen sind ihm einerlei. Aber weil dieses charakterliche Defizit derart monströs ist und der zuvor gesetzten Erwartung so krass widerspricht, wird es von den Zuschauern im Gerichtssaal nicht bemerkt.

Doch sobald jemand das Licht einschalten und die richtige Frage stellen würde, flöge der faule Zauber sofort auf. Die richtige Frage lautet: "Stellen Sie den Lobpreis ihres Gottes über jedes menschliche Leid, so furchtbar es auch sein mag, und verlangen sie dieses Opfer vor allem von anderen, sogar von den Schwächsten?" — Die Antwort lautet schlicht und einfach: "Ja". Und damit würde der Theologe seinen Prozess und alle Sympathien sofort verlieren.

Ein weiterer Trick: Warum wurde nur von einem Gott gesprochen? Auch dies ist eine Prämisse, die bewusst in die Irre führen soll. Was wäre geschehen, wenn der Gegenanwalt einfach ein anderes Götterbuch aus dem Hut gezaubert hätte? Irgendeinen "Krishna" oder "Womblebee" oder einen heiligen Affen, der mit der exakt gleichen göttlichen Autorität etwas ganz anderes fordern würde? Dann stünde Aussage gegen Aussage. So kommen wir nicht weiter.

Was der Theologe erreichen will ist, dass wir im Gerichtssaal in Zukunft die Bibel aufschlagen. Wenn man es so klar formuliert, würde es kaum ein Zuschauer akzeptieren. Die angeblich so knifflige Frage stellt sich überhaupt nicht. Die Bibel hat im Gerichtssaal ebensowenig verloren wie sündige Truthähne oder heilige Affen. Dasselbe gilt für den Theologen. Sein Plädoyer scheitert bereits daran, dass er seine Legitimität, es überhaupt in einem Gerichtssaal vortragen zu dürfen, nie bewiesen hat. Sie wurde so selbstverständlich vorausgesetzt, das es niemand in den Sinn kam, danach zu fragen. Warum ist der Theologe nicht kurzerhand als Richter aufgetreten?

Ich will nicht behaupten, dass man keine Argumente pro und kontra Sterbehilfe austauschen könnte. Aber ausgedachte und unsichtbare Märchenfiguren haben nicht den Rang eines Arguments. Nur deswegen war es notwendig, die Szene in einen Gerichtssaal zu verfrachten, um eine intellektuelle Höhe vorzugaukeln, die überhaupt nicht vorhanden ist.
Jörn ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.12.2020, 11:58   #16303
Trimichi
Szenekenner
 
Registriert seit: 10.06.2009
Beiträge: 7.184
Zitat:
Zitat von Jörn Beitrag anzeigen
Wie bei einem guten Zaubertrick sollte man stets jene Hand beobachten, die im Schatten agiert, und die sich nur allzu große Mühe gibt, nicht beachtet zu werden. Dort passieren die interessanten Dinge. Zudem ist es ratsam, die Prämissen zu prüfen, die dem Betrachter als derart selbstverständlich präsentiert werden, dass sie nicht weiter geprüft werden. War überhaupt eine Frau in der Kiste, bevor diese zersägt wurde? Es geht darum, dem Zuschauer die Dinge so zu präsentieren, dass sie nicht hinterfragt werden. Jene Dinge, die offensichtlich zu hinterfragen sind, sind läppisch. Im Verborgenen liegt der Trick.

Wie Arne bereits demonstriert hat, ist nämlich bereits die Prämisse falsch, die Bibel oder "das Christentum" würde stets alles Leben schützen. Diese Behauptung mag man als private Meinung abtun, immerhin gibt es viele unterschiedliche Bibelverse. Aber was ist mit Gott? Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass Gott das Leben nicht schützt, denn sonst würde niemand von uns sterben. Tatsächlich sterben aber alle, ohne Ausnahme. Dies wissen wir sicher. Der Trick besteht also darin, die Zuschauer davon abzulenken, dass wir am Ende alle sterben und dass dies ein Beweis dafür ist, dass Gott das Leben nicht schützt.

Daraus kann man lernen, dass eine völlig offensichtliche Falschbehauptung übersehen werden kann, wenn die Falschbehauptung nur monströs und dreist genug ist; einfach weil das Publikum nicht damit rechnet.

Aber es sind noch weitere Prämissen falsch, die so dreist sind, dass das Publikum es übersieht.

Wer ist überhaupt dieser Theologe, der da eifrig im Gerichtssaal doziert? Vertritt er das Gesetz? Offenbar nicht. Vertritt er das Volk? Offenbar auch nicht. Vertritt er einen Gott? Das hat er weder bewiesen noch behauptet. Dennoch sind alle der Ansicht, er täte es. Tatsächlich vertritt er keine Kirche, keine Konfession, keine alte Tradition. Trotzdem gelingt es ihm, sein Anliegen mit allergrößter Autorität vorzutragen, die es ihm sogar gestattet, sich gegen das Gesetz und den gesunden Menschenverstand zu stellen. Mit anderen Worten: Die Kiste, die er kunstvoll vor aller Augen zersägt, ist leer, aber alle sollen denken, sie sei randvoll.

Ein weiterer Trick: Die Gerichtsszene. Das Publikum erwartet, dass vor Gericht die betroffenen Parteien darüber streiten, wer recht hat. Aber vertritt der Theologe überhaupt eine betroffene Partei? Nein, das ist nicht der Fall. Er vertritt eine angebliche Gottheit, die von dem ganzen Spektakel ausdrücklich nicht betroffen ist (da unsterblich). Diese Gottheit, von der zudem niemand weiß, wo sie ist, woraus sie besteht und was sie will, befindet sich zudem nicht im Gerichtssaal und äußert sich nicht. — Warum diese Gottheit also eine Partei in einem Gerichtsverfahren sein kann, bleibt völlig nebulös.

Dennoch gelingt es dem Theologen, vorzugaukeln, es handele sich um eine faire Gerichtsverhandlung mit strikten und verlässlichen Regeln. Der Theologe trägt aber den Willen einer Partei vor, deren Wille er nicht kennt und nicht kennen kann. Auch der Gegenanwalt und der Richter können diesen unsichtbaren Zeugen nicht ins Kreuzverhör nehmen. Ebensogut könnte man einen Truthahn vor Gericht stellen (auch dies ist eine christliche Tradition). Die ganze Szene ist derart bescheuert, dass man als Zuschauer nicht damit rechnet und es erstmal akzeptiert, um zu sehen, was passiert.

Hat der Theologe wenigstens ein ehrbares Anliegen? Auch das ist eine Grundannahme, die nie geprüft wird. Im Gegenteil, die Reaktion des Gegenanwalts soll suggerieren, dass er trotz juristischer Differenzen dennoch die vorzügliche Persönlichkeit seines gläubigen Gegners wertschätze. Es wird suggeriert, der Theologe sei ein großer Humanist, stets bedacht auf größtmögliche Menschlichkeit.

Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Humanismus, also das, was für den Menschen vorteilhaft wäre, spielt beim Theologen überhaupt keine Rolle. Es wird sogar bestritten, dass dies ein mögliches Kriterium sein könnte. Sondern es geht allein darum, den angeblichen Willen Gottes auszuführen, koste es, was es wolle. Mit anderen Worten, der Theologe geht buchstäblich über Leichen. Selbst das größte Leid kann ihn nicht erweichen. Er ist ein Menschenfeind. Er akzeptiert das Leid der Schwächsten zum Lobe seines Gottes. Das Leid und die Menschen sind ihm einerlei. Aber weil dieses charakterliche Defizit derart monströs ist und der zuvor gesetzten Erwartung so krass widerspricht, wird es von den Zuschauern im Gerichtssaal nicht bemerkt.

Doch sobald jemand das Licht einschalten und die richtige Frage stellen würde, flöge der faule Zauber sofort auf. Die richtige Frage lautet: "Stellen Sie den Lobpreis ihres Gottes über jedes menschliche Leid, so furchtbar es auch sein mag, und verlangen sie dieses Opfer vor allem von anderen, sogar von den Schwächsten?" — Die Antwort lautet schlicht und einfach: "Ja". Und damit würde der Theologe seinen Prozess und alle Sympathien sofort verlieren.

Ein weiterer Trick: Warum wurde nur von einem Gott gesprochen? Auch dies ist eine Prämisse, die bewusst in die Irre führen soll. Was wäre geschehen, wenn der Gegenanwalt einfach ein anderes Götterbuch aus dem Hut gezaubert hätte? Irgendeinen "Krishna" oder "Womblebee" oder einen heiligen Affen, der mit der exakt gleichen göttlichen Autorität etwas ganz anderes fordern würde? Dann stünde Aussage gegen Aussage. So kommen wir nicht weiter.

Was der Theologe erreichen will ist, dass wir im Gerichtssaal in Zukunft die Bibel aufschlagen. Wenn man es so klar formuliert, würde es kaum ein Zuschauer akzeptieren. Die angeblich so knifflige Frage stellt sich überhaupt nicht. Die Bibel hat im Gerichtssaal ebensowenig verloren wie sündige Truthähne oder heilige Affen. Dasselbe gilt für den Theologen. Sein Plädoyer scheitert bereits daran, dass er seine Legitimität, es überhaupt in einem Gerichtssaal vortragen zu dürfen, nie bewiesen hat. Sie wurde so selbstverständlich vorausgesetzt, das es niemand in den Sinn kam, danach zu fragen. Warum ist der Theologe nicht kurzerhand als Richter aufgetreten?

Ich will nicht behaupten, dass man keine Argumente pro und kontra Sterbehilfe austauschen könnte. Aber ausgedachte und unsichtbare Märchenfiguren haben nicht den Rang eines Arguments. Nur deswegen war es notwendig, die Szene in einen Gerichtssaal zu verfrachten, um eine intellektuelle Höhe vorzugaukeln, die überhaupt nicht vorhanden ist.
Naja, es gibt genügend Beweise der qualitativen Forschung über Narrative, insofern, dass Narrative durchaus wichtig sind. Letztlich hake ich wieder mit der Drei-Stadien-Theorie des Auguste Comte ein.

1. Stadium: Stadium der Religion
2. Stadium: Stadium der Metaphysik
3. Stadium: Stadium der Wissenschaft.

Auf wiki schreibt man inzwischen schon vom Drei-Stadien-Gesetz. Wiki eben.
https://de.wikipedia.org/wiki/Drei-Stadien-Gesetz

Was bleibt denn, wenn wir die Narrative löschen? Fange ich mal so an. Nullen und Einsen lösen sich zwar in mathematischen Gleichungen auf, meistens jedenfalls, lösen allerdings keine zwischenmenschlichen oder moralischen Dilemma.

Aber ok, wir, die Menschen, sind im Stadium der Wissenschaft angekommen. Lassen wir das mal so stehen. Dennoch bleiben Anomalien, um Tom Kuhn zu bemühen und seine Ausdrucksweise der Inkommensurabilität. Hat nach dem alten Paradogma, wenn man so möchte, der liebe Herrgott alles Leben geschaffen ("donum vitae") und nimmt auch der liebe Herrgott das Leben wieder ("Asche zu Asche, Staub zu Staub") so bleibt hier eine Lücke oder Anomalie. Beispiel: ist Sterbehilfe logisch? Wonach richten wir uns? Wer setzt die Kriterien fest, ab welchen ein Mensch mit der Hilfe anderer sterben darf? Zum einen gibt es die Patientenverfügung. Zum anderen ist Sterbehilfe in der Schweiz erlaubt. Die Kriterien sind nicht so einfach.

Wonach richten wir uns? Ist Moral nur ein Trick? Um es so zu formulieren. Sicherlich nicht. Doch woher kommen unsere moralischen Maßstäbe? Aus uns selbst heraus? Aus den Narrativen auch? Wo also finden wir eine Richtschnur oder einen moralischen Kompass für unser Handeln? Eine subjektive Auswahl an Narrativen ist sicherlich nicht repräsentativ für die religiöse Schrift oder alle religiösen Schriften.

Abstrahiert und konterkarriert: Wissenschaft alleine liefert keine Orientierung. Womöglich ist es aber Zeit Religion tatsächlich abzuschaffen, obschon auch die Philosophie in der Krise steckt, weil eben soviele Expertenwissenschaften vorliegen, wenn ich Habermas richtig verstanden habe in seinen neuen Büchern, die ich leider immer noch nur im Anfang gelesen habe. Meine Ausrede: qbz hatte Recht. Alte Männer neigen zur Weitschweifigkeit.

Was ist also die Aufgabe der Philosophie? Fragt Habermas. Wenn Philosophie als Denk-und Grundwissenschaft ausgedient haben soll? Und wenn es auch keine Religion mehr geben darf? Woher kommt dann unsere Moral?

Eine Durchdigitalisierung des Menschen oder eine Verrationalisierung des Menschen kann ich nicht gut heißen. Weil vom Menschlichen nichts mehr übrig bleibt.

Zitat:
Zitat von Klugschnacker Beitrag anzeigen

Für sich selber kann der Kirchenmann das gerne machen. Sein Bestreben, das auch für alle anderen Menschen durchzusetzen, bekommt von mir keinen Applaus.
Darin stoße auch ich mich. Am sogenannten Missionsbefehl Christi. Glauben darf ja jede_r was man möchte. Gilt ja Religionsfreiheit. Und hier ist imho ein Widerspruch, weil ja durch die Religionsfreiheit der Missionsbefehl gedeckt ist? Ich darf also anderen meinen Glauben aufzwingen (würde ich nicht machen; andere könnten so denken, wie zum Beispiel der von dir erwähnte Kirchenmann)?

Worin unterscheidet sich der Staat vom Kirchenmann? Ich finde die staatliche verordnete Digitalisierung, die nun auch Ursula von der Leyen "promotet" als eine Zumutung. Daher glaube auch ich an was ich will, lasse mir aber auch vom Staat keine "Digitalisierung als Religion" quasi aufzwingen.

Worin unterscheiden sich Religion und politischer Wissenschaftsglaube? Auch Dawkins hilft nicht weiter, denn Erfolg haben auch Krebs oder Viren hinsichtlich des dessen Verbreitungskriteriums.

Geändert von Trimichi (13.12.2020 um 13:00 Uhr). Grund: kleinere Ausbesserungen (Adjektive und Rechtschreibung).
Trimichi ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.12.2020, 13:28   #16304
Klugschnacker
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Benutzerbild von Klugschnacker
 
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Zitat:
Zitat von Trimichi Beitrag anzeigen
Beispiel: ist Sterbehilfe logisch? Wonach richten wir uns? Wer setzt die Kriterien fest, ab welchen ein Mensch mit der Hilfe anderer sterben darf? Zum einen gibt es die Patientenverfügung. Zum anderen ist Sterbehilfe in der Schweiz erlaubt. Die Kriterien sind nicht so einfach.
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben wird aus der Menschenwürde abgeleitet. Weil sich dieses Recht in der Realität regelmäßig nur mithilfe Dritter wahrnehmen lässt, muss diese Beteiligung Dritter zulässig sein.

Zitat:
Zitat von Trimichi Beitrag anzeigen
Wonach richten wir uns? Ist Moral nur ein Trick? Um es so zu formulieren. Sicherlich nicht. Doch woher kommen unsere moralischen Maßstäbe? Aus uns selbst heraus? Aus den Narrativen auch? Wo also finden wir eine Richtschnur oder einen moralischen Kompass für unser Handeln?
Im Humanismus ist die Richtschnur das Vermeiden unnötigen Leids im Diesseits. Anstatt uns als Ebenbilder Gottes die Welt untertan zu machen, schreiben wir beispielsweise den Tierschutz in unsere Gesetze.

Außerdem bilden sich gesellschaftliche Verhaltensweisen von selbst und verfestigen sich zu moralischen Standards, wenn sie funktionieren: Wir hauen uns deshalb nicht ständig gegenseitig über's Ohr, weil Kooperation im Durchschnitt erfolgreicher ist. Das prägt dann unsere moralischen Standards.

Zitat:
Zitat von Trimichi Beitrag anzeigen
Wissenschaft alleine liefert keine Orientierung.
Mir scheint, Du konstruierst hier eine falsche Dichotomie, als gäbe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder liefert die Religion Orientierung, oder die Wissenschaft. Falls die Wissenschaft keine Orientierung bietet, bräuchten wir zwangsläufig die Religion für die Orientierung. Oder umgekehrt.

Mal gibt uns die Wissenschaft eine Orientierung, mal nicht.

Schönen Sonntag!
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