Lieber Arne,
ich habe die dritte Antwort angekreuzt, dass ich mir also vorstellen könnte, in naher Zukunft vegan zu leben.
Eine Ernährung ohne Fleisch und Fisch praktiziere ich seit knapp 20 Jahren. Das geht gut, schmeckt mir und ich bin gesund (wenn man mal von der MS absieht, die ich wohl eher nicht durch den Vegetarismus bekommen habe, obwohl es auch Leute gibt, die da nicht so sicher wären).
In den letzten ca. 2 Jahren befasse ich mich immer wieder mal mit dem Thema und denke immer wieder darüber nach, ob ich mich nicht vegan ernähren sollte, weil Vegetarismus zu kurz greift, wenn man nicht für Tierelend verantwortlich sein möchte - und das war und ist mein einziger Grund, auf Fleisch und Fisch zu verzichten, denn ich habe beides extrem gerne gegessen.
Wenn ich Milch und Eier esse, bin ich aber mit dafür verantwortlich, dass Kälber geboren werden und Küken. Diese werden aufgezogen und gemästet und geschlachtet. Sie werden das - je nach Haltung - mehr oder weniger furchtbar und industriell.
Bei Produkten mit Demeter-Siegel bin ich mir eigentlich recht sicher, dass ich die Art der Tierhaltung mit meinem Gewissen vereinbaren kann, aber Fakt ist, dass ich nicht nur Demeter Produkte kaufe.
Fakt ist auch, wenn man nur noch Eier kaufte, die z.B. der
Bruderhahn Initiative entstammen, es trotzdem so bleibt, dass es zwar viele Vegetarier gibt, die bereit sind, das doppelte für ihre Eier zu zahlen, um ihr Gewissen zu beruhigen, aber eben nicht genügend Fleischesser, die bereit sind, die doppelt so teuren, aufgezogenen und gemästeten Brüder der Legehennen zu kaufen.
Ein weiteres Bespiel sind die Brüder der ganzen Milchziegen, die die Milch für die von mir so heiß geliebten Ziegenmilchprodukte geben. Ich las letztens einen Artikel, dass die Böckchen überwiegend getötet werden, noch ganz jung und völlig ohne jeden Sinn, einfach weil kaum ein Mensch Ziegenfleisch essen möchte - schon gar nicht so teuren Bio-Preisen, wenn es artgerecht produziert wurde.
Es gäbe wohl noch viele Beispiele für die Unzulänglichkeit der Entscheidung zum Vegetarismus.
Ich denke auch immer wieder darüber nach, ob es dann nicht sinnvoller wäre, wieder Fleisch zu essen, aus einer vertretbaren Haltung selbstverständlich. Also z.B. Tiere von Demeter-Höfen zu essen. Ich habe solche Höfe gesehen und dort war die Haltung absolut so, dass ich sagen würde, dass ich diese Tiere essen könnte, wenn ich denn wollte. Sie werden sehr gut gehalten und führen ein gutes Leben.
Ich könnte dann z.B. die Hähne der Bruderhahn-Initiative kaufen.
Ich las auch zwei Artikel, die mich sehr nachdenklich gemacht haben. In einem ging es darum, dass Bio-Landwirtschaft ohne Tierhaltung nicht denkbar ist, weil die biologische Düngung ohne chemische und mineralische Dünger eben die mit Tiermist ist. Wobei Veganer sagen, dass eine Düngung ohne tierische Produkte doch möglich ist. In dem Artikel war die Kritik an Vegetariern für mich sehr logisch nachvollziehbar, die ja oft nicht nur fleischlos leben, sondern Bio-Produkte kaufen, aber nicht sehen, dass es für Bio eben Tiermist braucht.
Der zweite Artikel betraf die Böden der Welt und dass es weltweit einen sehr großen Anteil Böden gibt, die eigentlich für nichts anderes als für extensive Weidewirtschaft zu nutzen sind. In dem Moment, in dem sie z.B. zu Ackerland werden, ist ihr Untergang besiedelt, weil sie dazu einfach nicht taugen. Ein Beispiel aus unseren Breitengraden wären wohl die Alpen oder so. Da kann man eigentlich ökologisch nichts anderes machen, als Tiere drauf zu halten. Alles andere würde die kargen Böden zu sehr auslaugen.
Ich bin also in einem Dilemma, weil ich den Eindruck habe, ich müsste entweder vegan leben oder wieder Fleisch essen, weil meine Zwischenlösung, der Vegetarismus, zu kurz greift.
Ich kann mich aktuell zu beiden Alternativen aber nicht durchringen, also esse ich bis auf weiteres vegetarisch.
Aber vorstellen könnte ich mir schon, vegan zu leben, auch wenn ich es eigentlich nicht für die natürliche Ernährungsform für Menschen halte und auch wenn mich z.B. Erfahrungen wie die von Pink Poison zitierte amerikanische Vegan-Bloggerin nachdenklich machen, die wohl eine der bekanntesten Kämpferinnen für Veganismus war und dann selbst wieder zur vegetarischen (oder sogar fleischlichen?) Ernährung zurück kehrte, nachdem sie und ihre Kinder krank wurden und sie das der veganen Ernährung zuschrieb.
Ich habe es im letzten Jahr zweimal für zwei Wochen versucht, vegan zu leben und es ging gut. Es war lecker und es fehlte mir gefühlt nichts. Aber es waren eben auch nur je zwei Wochen.
Konsequent vegan könnte ich aber vermutlich eh nicht leben, wie es wohl auch die wenigsten Veganer tun. Denn das würde ja eben bedeuten, Bio-Produkte überwiegend zu meiden, denn das Gemüse dort wird halt meistens mit Tiermist gedüngt. Ich las einen Artikel über Bio-Ananas aus Costa Rica: Die werden, weil Chemie verboten ist, mit einer ekeligen Mischung aus Tierblut und anderem Zeug gedüngt. Oder diente das als Schädlingsschutz? Egal, war jedenfalls nicht vegan. So was weiß man doch gar nicht alles, das sind doch Zufälle, wenn man so was hört...
Ich finde das Thema unfassbar komplex. Nicht ohne Grund führen Diskussionen zu diesem Thema hier im Forum regelmäßig zu Streit. Es ist nicht so einfach, was gut ist, was richtig ist, was ethisch ist, was gesund ist.
Für mich persönlich wird es spätestens dann spannend, wenn ich dement im Altenheim hocke und irgendjemand dem Personal gesagt hat, dass ich 60 Jahre lang Vegetarierin bin. Ich werde, weil ich vergessen habe, dass ich kein Fleisch esse, schreien: "Ich will auch ein Würstchen! Gebt mir ein Würstchen!" Und das Personal wird mich anschreien (auch wenn ich gut höre, aber sie schreien immer, wenn jemand was nicht schnallt, als ob es daran läge, dass er sie nicht hört): "Bellamartha, Sie sind VEGETARIERIN! Sie essen kein Fleisch!" Ich: "Würstchen! Ich will ein Würstchen!" Wenn ich dann aggressiv werde, werden sie mir vielleicht dämpfende Medikamente geben.
(Um das zu vermeiden, habe ich übrigens in die "Pflegeanleitung" für mich, die meine Patientenverfügung ergänzt, reingeschrieben, dass ich Fleisch zu essen haben will, wenn ich vergessen haben sollte, dass ich Vegetarierin bin.
)
Soweit meine unvollständigen, unbefriedigenden Gedanken zur Frage.
Viele Grüße
J.