Zitat von welt.de
Fast jedem menschlichen Problem liegt eine Kränkung zugrunde, glaubt Reinhard Haller, Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik in Österreich. Als renommierter Gerichtspsychiater wird Haller außerdem seit Jahren mit der Begutachtung großer Kriminalfälle betraut. Bei den Tätern sieht er eine auffällige Gemeinsamkeit, die Gekränktheit. Kränkungen bedeuten Angriffe auf Selbstachtung, Ehrgefühl und Werte, sie treffen uns im Innersten. Und doch, glaubt Haller, haben sie auch einen positiven Einfluss auf die Menschheit – auf ihr Zusammenleben und ihre Kulturgeschichte.
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Haller: Kränkungen kennt jeder, aber keiner kann sie richtig beschreiben. Die Wissenschaft hat sich damit gar nicht beschäftigt, die hat sich nur mit dem Trauma auseinandergesetzt, also mit dramatischen Lebensereignissen. Eine Kränkung ist viel subtiler, sie breitet sich langsam aus, und dann reicht schon eine Kleinigkeit, um nach Jahren eine Katastrophe auszulösen.
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Haller: Man kann eine Kränkung betrachten als Mittel der besseren Selbstkenntnis, denn ob ich will oder nicht, weist sie mich auf meine sensiblen Stellen hin. Man kann sie auch sehen als Mittel zur Menschenkenntnis, man sagt ja zum Beispiel oft, gerade von dem hätte ich das nicht erwartet, es zeigt mir eine bislang unbekannte aggressive, destruktive Seite eines Menschen.
Die Welt: Und das ist ein Gewinn?
Haller: Es lässt mich zumindest in Zukunft vorsichtiger sein. Der dritte Punkt: Es gibt nichts außer der Liebe, das die Empathie, das Hineinfühlen in andere so schärfen und fördern kann. Wenn ich meine eigenen Gekränktheiten wahrnehme, wenn ich dieses wirklich unschöne Gefühl kenne, hinterfrage ich mich, ob ich mich anderen gegenüber auch so verhalte. Insofern regulieren Kränkungen auch das Sozialleben.
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