Ich würde diesen Punkt gerne untermauern, dass die Kirchen ihre Moral als etwas betrachten, was sich zwischen Gott und den Menschen abspielt. Das klingt für Gläubige erstmal großartig. Aber was ist damit gemeint?
Die Bibel sagt, dass dem Mensch überhaupt keine Moral zusteht. Das ganze Konzept ist der Bibel fremd, genauso wie ihr auch individuelle Rechte oder Freiheiten fremd sind. Moralische Ansprüche eines Menschen
gegenüber eines anderen Menschen, oder gar eine faire Abwägung unterschiedlicher Ansprüche, sind der Bibel unbekannt. Stattdessen werden Besitzverhältnisse und materielle Ansprüche geregelt; meist jenes von Herr und Untertan (also Gläubige gegenüber Priestern, Sklaven gegenüber dem Sklavenhalter, Frauen gegenüber Vater/Ehemann und so weiter).
Jahwe hat an die Menschen überhaupt keine anderen Ansprüche als Besitzansprüche. Er will, dass er als eine Art oberster König akzeptiert wird, und er fordert Opfergaben. Er hat keine moralische Botschaft, kein Konzept von Fairness. Wichtig ist ihm, dass er bekommt, was er verlangt.
Die
Kirchen haben vielleicht etwas, was sie selbst als Moral bezeichnen würden, verwenden jedoch den Begriff ganz anders als man es heute gewohnt ist. Bei den Kirchen ist Moral nichts, was sich zwischen Menschen (oder generell Lebewesen) abspielt, sondern es ist eine Sache zwischen Gottvater und den Gläubigen. Jedoch geht es auch hier allein um Besitzansprüche: Hat der Gläubige das gegeben, was dem Gott zusteht, ja oder nein? Hat sich der Gläubige an die Regeln der Kirche gehalten, ja oder nein? Es geht überhaupt nicht darum, wie sich
Menschen untereinander gerecht/moralisch verhalten.
Ein Beispiel:
Für manche Menschen (nicht für mich) ist die "Ehe für alle" eine moralische Frage (keine Ahnung, wieso). Man überlegt sich bei dieser moralischen Frage, welcher Person dadurch ein Nachteil entsteht; welche Vorteile es andererseits für die Betroffenen zu gewinnen gibt; welche Rechte man für sich selbst in Anspruch nimmt -- all das sind Abwägungen, die sich mit menschlichen Ansprüchen befassen. Was gewinnt der eine, was verliert der andere?
Für die Kirchen, die den moralischen Aspekt ganz besonders betonen, geht es aber allein darum, welches "Rechtsverhältnis" zwischen der Person und Gott besteht. Ob es einem Menschen nutzt (oder einem anderen schadet) spielt überhaupt keine Rolle. Der Mensch ist schlicht nicht der Gegenstand dieser "Moral". Der Moralbegriff der kath. Kirche gleicht eher einer Gerichtsverhandlung, und der Mensch ist immer der Angeklagte.
Man beachte auch, dass wir den Begriff "Moral" üblicherweise verbinden mit "Verhältnismäßigkeit". Man hackt einem Teenager nicht die Hand ab, weil er einen Apfel stahl. Diese Verhältnismäßigkeit ist in der Bibel nicht zu finden, und auch im heutigen Christentum nicht. Sünden werden im Fegefeuer gebüßt, eine mildere Strafe ist nicht vorgesehen. (Man beachte, dass das Fegefeuer eine Erfindung der Kirchen ist und daher nicht dadurch entschuldigt werden kann, dass es sich hier um eine biblische Metapher handele.)