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bellamartha 27.07.2011 18:53

Achtung, lang!
 
Zitat:

Zitat von DragAttack (Beitrag 615441)
Schön eine Fachfrau an Bodr zu haben :Blumen:

Gerade zum Thema Heroin würde ich gerne meinen Kenntnisstand zur Gefährlichkeit Veri- bzw. Falsifizieren lassen.
Unstrittig ist Heroin eine Droge mit hohem Suchtpotential.
Andererseits, soweit ich mitbekommen hab (ohne hierfür Quellen nennen zu können), sollen bei kontrolliertem Konsum die körperlichen Schäden überschaubar sein und die tatsächlich auftretenden Schäden überwiegend durch Streckmittel, mangelnde Hygiene bei der Injektion sowie versehentliche Überdosierung bei unbekanntem Reinheitsgrad verursacht sein.

Gruß Torsten
P.s.: Bevor jetzt das Gewitter über mich hereinbricht, ich würde Heroin legalisieren wollen - ich denke eher in Richtung Kontrollierter Abgabe an Abhängige. Entsprechende Versuche in der Schweiz sollen erfolgreich gewesen sein.

Ich habe ja - wie heute Morgen schon geschrieben - eine bewegte Geschichte in Sachen Eintstellung zu Sucht und Drogen hinter mir. So habe ich in meiner Jugend und noch in meinem Studium der Sozialklemptnerei lange recht radikale Haltungen vertreten, die ihren Urspung in der akzeptierenden Drogenhilfe haben. Da ging es mir um sehr niedrigschwellige Hilfen, um die Akzeptanz von Suchtmittelkonsum als EIN mögliches Lebensmodell, da ging es um Entstigmatisierung, um Entkriminalisierung und teilweise auch um Legalisierung und wenn man solche Gedanken zu Ende denkt, kommen Modelle wie die von Henning Schmidt-Semisch ("Drogen als Genussmittel- Ein Modell zur Freigabe illegaler Drogen" 1992), Christian Bauer ("Heroin Freigabe - Möglichkeiten und Grenzen einer anderen Drogenpolitik" 1992), von Heiner Gatzmeier ("Heroin vom Staat - Für eine kontrollierte Freigabe harter Drogen" 1993) und anderen (Heino Stöver, Ingo Ilja Michels u.a.) dabei heraus.
Ich stand damals noch sehr unter dem Eindruck des Todes meines älteren Bruders, der mit 21 Jahren an einer Überdosis Heroin starb als ich knapp 16 Jahre alt war. Dieser frühe Tod machte mich vor allem wütend und ich schob allen, nur nicht ihm selbst, die Schuld in die Schuhe. Da liegen Gedanken an radikal andere Sichtweisen von Sucht und Drogen schnell auf der Hand.
Als ich dann aber begann, selbst mit Drogenabhängigen (und am Rande auch mit Alkoholabhängigen) zu arbeiten, hat sich bei mir schnell viel verändert.
Heute glaube ich, dass ich nie eine sichere, endgültige Haltung finden kann. Jeden Tag erlebe ich neue Menschen mit ganz eigenen Geschichten, Hintergründen und Facetten der Sucht und das führt dazu, dass ich immer wieder Dinge relativiere oder anders sehe als sie mir zuvor so sicher zu sein schienen.
Vor allem aber ändere auch ich mich ja. Früher war ich jung und wütend und radikal (nicht nur in Bezug auf Drogen). Heute bin ich viel kompromissbereiter, diplomatischer und habe viel mehr erlebt. Zuletzt bemerkte ich wieder eine deutliche Veränderung in meiner Wahrnehmung, seit ich selbst chronisch krank bin. Das ist eine neue Erfahrung und ich staune über die Parallelen, auch wenn meine Krankheit ganz anders ist, als die der Suchtkranken.
Nur eines hat sich in all den Jahren nicht verändert: Mein eigenes Konsumverhalten. Schon immer lebe ich komplett abstinent, habe nie einen einzigen Zug an einer Zigarette oder einem Joint gemacht, nie LSD, Ecstasy oder andere "Partydrogen" genommen und auch niemals Alkohol getrunken. Das ist MEIN Weg, aber eben auch nur EIN Weg. Für mich ist er gut und richtig, wenn er auch nicht immer leicht war und mindestens so jenseits der Norm ist wie der meines Bruders.
Bei all den Diskussionen hier und den unterschiedlichen Meinungen, könnten sich vermutlich die meisten hier auf einen ziemlich großen gemeinsamen Nenner verständigen:
* Viele Suchtmittel sind potentiell gefährlich, weil sie abängig machen können.
* Alkohol (und auch Nikotin) zählen auch zu den Suchtmitteln, die sehr gefährlich sein können.
* Suchtmittel können aber auch Spaß machen.
* Kontrollierter Suchtmittelkonsum ist für viele ein erstrebenswerter Zustand, gegen den wenig spricht.
* Es macht wenig Sinn, Äpfel nicht mit Birnen zu verlgeichen, beides ist Obst und doch sehr verschieden, bei allen Ähnlichkeiten, die auch existieren. Und es gibt Menschen, die mögen halt lieber Birnen als Äpfel. Und manche Menschen vertragen Äpfel, aber keine Birnen. Und manche Menschen sollten die Finger von beidem lassen, weil sie's nicht vertragen.
* Sucht ist eine Krankheit.
* Dass Sucht eine Krankheit ist, bedeutet aber nicht, dass das eine Generalentschuldigung für den Suchtkranken ist.
* Sucht ist eine systemische Erkrankung, unter der immer auch das Umfeld leidet, weshalb es eben nicht egal ist, was jemand tut und was er konsumiert.
* Sucht ist eine Erkrankung, die unsere Gesellschaft viel kostet: viel Geld, viel Elend, viel Schmerz und Leid.

Und, und, und...
Vermutlich verbindet uns viel mehr als uns trennt.

Noch kurz zum Heroin, weil's den einen oder anderen interessiert hat und zur Frage des Abhängigkeitspotentiales von verschiedenen Suchtmitteln.
Erst 2007 haben Forscher um David Nutt eine Studie veröffentlicht, in der (ich glaube erstmals) versucht wurde, eine Klassifizierung von Suchtmitteln nach Schadenspotential vorzunehmen. Drei Hauptfaktoren wurden definiert:
1. der (körperliche und gesundheitliche) physische Schaden für das Individuum, den die Droge verursachen kann;
2. das potenzielle Ausmaß der Abhängigkeit des Individuums von der Droge und
3. die möglichen Auswirkungen des Drogengebrauchs auf die Familie, die Gemeinde und die Gesellschaft, in welcher der Drogennutzer lebt, also der soziale Schaden.
Es gab noch Unterkategorien und es wurden von Experten Punkte vergeben. Daraus wurde dann ein Wert errechnet, der das Schadenspotential benennt. Alkohol und Tabak mischten unter den ersten 10 Rängen der schädlichsten Drogen mit und nachdem David Nutt, damals Drogenbeauftragter der bristischen Regierung, die Drogenpolitik aufgrund der in der Studie gewonnenen Erkenntnisse kritisierte, verlor er seinen Job.
2010 gab es eine Folgestudie mit verbesserter Methodik.
War in der ersten Studie Heroin als gefährlicheste Droge benannt worden, gefolgt von Kokain, Barbituraten, Methadon und dann erst Alkohol, landete Alkohol in der Folgestudie in der Poleposition, gefolgt von Heroin, Crack (das in Deutschland übrigens nach wie vor fast keine Rolle spielt), Methamphetamin und Kokain. Tabak hier an Platz 6, in der Originalstudie an Platz 9. Während Alkohol eher im Bereich der Fremdschädigung punktet und problematisch aufgrund seiner leichten Verfügbarkeit und dem verbreiteten und akzeptierten Konsum ist, sind die illegalen Drogen meist mit einem höherem Selbstschädigungspotential verbunden, was auch mit der - vor allem beim Heroin - rasanten Abhängigkeitsetnwicklung zu tung hat.

Ja, reines Heroin ist nicht so sehr schädlich für den Körper. Dumm nur, dass der übliche Konsument weit vom reinen Heroin entfernt ist, sondern oft Stoff konsumiert, der nur wenige Prozent Heroin enthält, statt dessen aber jede Menge Streckmittel, die mehr oder weniger schädlich für den Körper sind. Die größte Gefahr vom Heroin an sich geht - neben der Abhängigkeitsentwicklung - von dem sehr geringen Spielraum zwischen Verträglichkeit und toxischer Wirkung aus. Die meisten Todesfälle sind auf Überdosierungen und damit auf eine Lämung des Atemzentrums zurückzuführen.
Heute bin ich nicht mehr der Meinung, dass eine prinzipielle, kontrollierte Abgabe von Heroin an die Konsumenten sinnvoll ist. Ganz sicher aber gibt es viele Abhängige, für die es sehr sinnvoll ist. Leider kann ich es nicht aus erster Hand berichten, weil unsere Klinik damals gegen das UKE in Hamburg verloren hatte, als es um einen weiteren Standort für Originalstoffvergabe ging. Ich habe aber mal in Bonn hospitiert, wo das schon jahrelang lief und es war spannend und aufschlussreich und ich hatte einen positiven Eindruck.
Puh, genug geschrieben, kann ja kein Mensch mehr lesen.
Sorry, aber es ist halt ein spannendes Thema. Nicht ganz so spannend und kontrovers wie das Paleo-Thema natürlich, aber da dort so eine Grabesstille herrscht, ist es ja schön, dass es hier recht munter ist...:)

dickermichel 27.07.2011 20:22

@bellamartha:
Mit Abstand das beste Post des Threads - danke!

Die von Dir genannte Studie hat bei offiziellen Stellen ziemliche Wellen geschlagen, eben weil sie Drogen in ihrer "ganzheitlichen" Wirkung nicht nur auf den Abängigen, sondern darüber hinaus untersucht hat.
Der Punkt ist ganz simpel:
Alkohol gehört in eine Reihe mit allen anderen Drogen und Giften gestellt.
Wie man dann auf dieser Basis mit dem Thema "Drogenkonsum in der Gesellschaft" umgeht, ist ein anderer Punkt.
Gruß: Michel

Lui 27.07.2011 21:04

Man kann eh nicht sagen, die Droge ist gefährlicher als die andere oder diese Droge macht abhängiger als die andere.

Für manche Leute ist Haschisch gefährlicher als Heroin, da es eventuell eine Psychose oder eine andere psychische Krankheit auslösen kann. Für manche ist Alkohol gefährlicher als Heroin. Eine Person kann jahrelang Heroin nehmen und hört einfach problemlos auf ohne durch Höllenqualen des Entzugs zu gehen. Andere schaffen es garmicht.
Manche trinken ihr lebenlang gemäßigt regelmässig Alkohol und werden dabei über 100. Andere werden nach kurzer Zeit suchtkrank und saufen immer mehr.
Manche kommen noch nicht mal von Nikotin los ohne Höllenqualen zu durchleben.
Es speilen so viele Faktoren eine Rolle, daß man nichts pauschalisieren kann.

Jede Mensch ist anders und jeder reagiert anders.

JENS-KLEVE 27.07.2011 21:32

Bei der Gefährlichkeit wird mir immer zu sehr der Aspekt "Sucht" beleuchtet. Die Konsumenten die ich kenne und kannte waren glaube ich gar nicht süchtig, die haben das Zeug einfach gerne konsumiert. Freiwillig und bewusst. Schlimme Folgen kann es auch ohne Sucht geben:

Alkohol bei Schwangerschaften, schon bei geringen Mengen, Psychosen, Organschädigungen, Verwahrlosung, Flash-Backs im Autoverkehr, Depressionen, Impotenz usw. usw. Falls mir also jemand beweisen würde, dass die Drogen A;B und C weder tödlich noch süchtigmachend sind, würde ich sie trotzdem nicht konsumieren obwohl ich weiss, dass sie Spaß machen würden.

TheRunningNerd 27.07.2011 21:45

Jens, das sind aber alles Effekte, die ich z.B. auch schon bei extremen Sport-Freaks gesehen habe.

Ich glaube Du verwechselst hier Ursache und Wirkung. Bestimmte Persönlichkeiten neigen natürlich eher zu Substanzmißbrauch, aber die würden sich im Zweifel auch mit irgendwas anderem aus der Gesellschaft schiessen.

Ja, es gibt Leute die sich mit Drogen völlig aus der Bahn ballern, es gibt aber auch welche, die damit wunderbar klarkommen und ein ganz normales geregeltes Leben führen. Genau wie es Leute gibt die mit ihrem LD Training die Familie zerstören und Leute, die's auf die Reihe kriegen. Meines Erachtens liegt das in erster Linie an der Person, nicht am Hobby oder der Droge.

Es ist sicher sehr gefährlich Drogen als "harmlos" darzustellen, und das will ich auch nicht. Aber die Droge als Ursache für das Elend z.B. einer Amy Winehouse zu betrachten ist i.d.R. falsch oder mindestens zu monokausales Denken.

DragAttack 28.07.2011 12:57

Danke für die ausführlichen Gedanken zum Thema.

Zitat:

Zitat von bellamartha (Beitrag 615797)
Heute bin ich nicht mehr der Meinung, dass eine prinzipielle, kontrollierte Abgabe von Heroin an die Konsumenten sinnvoll ist. Ganz sicher aber gibt es viele Abhängige, für die es sehr sinnvoll ist.

Was spricht deiner Meinung nach gegen eine kontrollierte Abgabe von eroin an Konsumenten, bzw. auf welchen Konsumentenkreis würdest du diese Abgabe beschränken wollen? Aus meiner Laiensicht sehe ich (zumindest bei Vorliegen einer eindeutigen Abhängigkeit) ausschließlich Pro-Argumente. Daher würden mich die Gegenargumente von dir interessieren.

Auch wenn wahrscheinlich wenig Neues dabei ist, hier in Stichpunkten meine Pro-Argumente:
  • Bekannter Reinheitsgrad, dadurch Vermeidung von Überdosierungen
  • Vermeidung schädlicher Streckmittel
  • (Bei vor Ort Konsum) Ausreichende Hygiene bei der Injektion, dadurch vermeidung von Infektionen
  • Bessere Erreichbarkeit für weitergehende Hilfsangebote
  • Wegbrechende Gewinne für Dealer, gleichzeitig Verringerung von Beschaffungskriminalität

Zitat:

Ja, reines Heroin ist nicht so sehr schädlich für den Körper. Dumm nur, dass der übliche Konsument weit vom reinen Heroin entfernt ist, sondern oft Stoff konsumiert, der nur wenige Prozent Heroin enthält, statt dessen aber jede Menge Streckmittel, die mehr oder weniger schädlich für den Körper sind.
Gerade diese Diskrepanz aus theoretisch geringer Schädlichkeit von reinem Heroin und der tatsächlich durch Heroin verursachten Schäden ließe sich IMHO durch eine kontrollierte Abgabe an abhängige Konsumenten weitgehend beheben. (Hierbei setze ich voraus, dass der Staat in der Lage wäre, ausreichende Mengen bei vertretbarem Konstenaufwand bereitzuhalten.)

Gruß Torsten

P.s.: Kriegst du in der Praxis etwas mit, hat der jüngste UN-Report zum Thema, in dem die Autoren (Kofi Annan u.a.) den War against Drugs für gescheitert erklären, Einfluss auf die aktuelle Diskusiion, ist zu erwarten, dass Konsequenzen aus den Empfehlungen gezogen werden?

bellamartha 28.07.2011 22:11

Hi Torsten,
deine wichtigen, sinnvollen und ernsten Fragen sollten nicht zwischen Tür und Angel beantwortet werden. Deshalb zumindest von mir heute und vor nächster Woche keine Antwort, weil ich schon fast auf dem Weg zu meinem Inselschwimmen bin. Gerne gebe ich nächste Woche noch mal meinen Senf dazu ab. Vielleicht diskutieren ja bis dahin schon mal andere das spannende Thema weiter.
Ich habe im Übrigen mit meinen Herren und Damen Heroinabhängigen schon besprochen, nächste Woche in den Gesprächsgruppen die Thematik zu diskutieren. Mache ich immer gerne, auf aktuelle Dinge einzugehen, diesmal eben auf Input aus'm Triathlon-Forum, hatten wir auch noch nicht. Sie finden es gut und ich freue mich drauf und werde euch berichten, was die Betroffenen dazu sagen.
Bis dahin erst mal schöne Grüße!
Judith.

bellamartha 28.07.2011 22:17

Und noch was...
 
... wie spannend! Allein durch die Diskussion hier und die jetzt aufkeimende Frage nach dem Für und Wider einer kontrollierten Abgabe harter illegaler Drogen, komme ich auf einmal wieder ins Nachdenken. Ich lese Torstens Fragen und stelle fest, dass ich sie so aus dem Stegreif gar nicht beantworten kann, obwohl ich die Haltung, gegen eine flächendeckende oder umfassende kontrollierte Abgabe zu sein so sicher und fest hier formuliert habe. Jetzt hinterfrage ich diese Haltung gerade, weil ich sie - zumindest nicht direkt - nicht ausreichend begründen kann.
So freue ich mich darauf, mich mit dem spannenden Thema neu auseinander zu setzen und bin selbst gespannt, was am Ende dabei heraus kommt, ob sich meine Haltung vielleicht doch mal wieder verändert und ich es nur nicht gemerkt habe, weil ich nicht mehr darüber nachgedacht habe. Ziemlich sicher werde ich mir auch die alten Schinken, die ich im ersten langen Post erwähnt habe, mal wieder zu Gemüte führen.
Bis denne, J.


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