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the grip 15.11.2014 11:29

Erich Kästner:
 
Gedanken beim Überfahrenwerden

Halt, mein Hut! Ist das das Ende?
Groß ist so ein Autobus.
Und wo hab' ich meine Hände?
Daß mir das passieren muß.

Arthur wohnt gleich in der Nähe.
Und es regnet. Hin ist hin.
Wenn mich Dorothee so sähe!
Gut, daß ich alleine bin.

Hab' ich die Theaterkarten,
als ich fortging, eingesteckt?
Pasternack wird auf mich warten.
Der Vertrag war fast perfekt.

Ist der Schreibtisch fest verschlossen?
Ohne mich macht Stern bankrott.
Gestern noch auf stolzen Rossen.
Morgen schon beim lieben Gott.

Bitte, nicht nach Hause bringen.
Dorothee erschrickt zu sehr.
Wer wird den Mephisto singen?
Na, ich hör' ihn ja nicht mehr.

Und ich hab' natürlich meinen
guten blauen Anzug an.
Anfangs wird sie furchtbar weinen.
Und dann kommt der nächste Mann.

Weitergehen! Das Gewimmel
hat doch wirklich keinen Sinn.
Hoffentlich gibt's keinen Himmel.
Denn da passe ich nicht hin.

Das Begräbnis erster Klasse,
mit Musik und echtem Sarg...
Dodo, aus der Sterbekasse
kriegst du zirka tausend Mark.

Andre würden gerne sterben.
Noch dazu bei voller Fahrt.
Nur die Möbel wirst du erben.
Hätt ich wenigstens gespart ...

the grip 18.11.2014 11:20

Ringelnatz:
 
Ein Taschenkrebs und ein Känguruh,
Die wollten sich ehelichen.
Das Standesamt gab es nicht zu,
Weil beide einander nicht glichen.

Da riefen sie zornig: "Verflucht und verdammt
Sei dieser Bureaukratismus!"
Und hingen sich auf vor dem Standesamt
An einem Türmechanismus.

the grip 20.11.2014 12:09

Marie von Ebner-Eschenbach:
 
Grenzen der Liebe

Alles kann Liebe:
zürnen und zagen,
leiden und wagen,
demütig werben,
töten, verderben,
alles kann Liebe.

Alles kann Liebe:
lachend entbehren,
weinend gewähren,
heißes Verlangen
nähren in bangen,
in einsamen Tagen –
alles kann Liebe –
nur nicht entsagen!

the grip 22.11.2014 13:05

Heine:
 
Hier, auf gewalkten Lumpen, soll ich
Mit einer Spule von der Gans
Hinkritzeln ernsthaft halb, halb drollig,
Versifizierten Firlefanz –

Ich, der gewohnt mich auszusprechen
Auf deinem schönen Rosenmund,
Mit Küssen, die wie Flammen brechen
Hervor aus tiefstem Herzensgrund!

O Modewut! Ist man ein Dichter,
Quält uns die eigne Frau zuletzt,
Bis man, wie andre Sangeslichter,
Ihr einen Reim ins Album setzt.

the grip 23.11.2014 10:59

Charles Bukowski
 
1810-1856

Eines Tages stürzte sich Robert
Schumann in den Rhein und sie
steckten ihn in eine Irren-
anstalt. Lebenslänglich.

Seine Frau Clara hielt trotzig
seine Kompositionen unter Verputz
Und verhinderte, daß sie auf-
geführt wurden.

Man könnte meinen, daß sie seine
größte Beschützerin und beste
Kritikerin war. Ich schätze
man könnte alles mögliche
meinen, aber ich bin froh
dass ich heute abend etwas
von Robert höre und nicht
von Clara.

the grip 29.11.2014 11:50

Wolf Wondratschek:
 
Death Valley

Die Straße ging immer gerade aus.
Ich summte immer die gleiche Melodie.
Ich fühlte den Dreck von hundert Zigaretten
auf der Zunge. Ich fuhr einen alten Chevy.
Der Wind pfiff durch alte Zahnlücken.
Links und rechts Wüste,
das Ende der Menschheit,
eine Schöpfungsgeschichte ohne Gott,
Steine, kleine Hasen und das Schild
LAS VEGAS 78 MEILEN.
Ich freute mich schon
auf's Verlieren

the grip 30.11.2014 10:33

Ludwig Thoma:
 
Vergänglichkeit

Es prangt um uns auf allen Wiesen
In Grün und Gelb, in Blau und Rot.
Wir wollen diese Pracht genießen,
Denn übermorgen ist sie tot.

Schon kommt man, sie hinwegzuraffen,
Es naht der Schnitter, der sie mäht.
Gott hat die Blumenwelt geschaffen,
Dass sie als Heu die Kühe bläht.

Wohl ist es wert, dass man sich härme,
Wenn man das Ganze recht bedenkt,
Wie diese Schönheit durch Gedärme
Verwandelt sich nach außen lenkt.

Hier liegt die Blume hingesch...lagen,
Sie rauchet noch als warmer Mist.
Warum? .. Das wird die Allmacht wissen,
Du frage nicht als frommer Christ.

the grip 01.12.2014 10:38

Erich Kästner:
 
Der Dezember
Das Jahr ward alt. Hat dünne Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.
Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.
Und Wehmut tut halt weh.
Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.
Nichts bleibt. Und nichts vergeht.
Ist alles Wahn. Hat alles Sinn.
Nützt nichts, daß man's versteht.
Und wieder stapft der Nikolaus
durch jeden Kindertraum.
Und wieder blüht in jedem Haus
der goldengrüne Baum.
Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,
wie hold Christbäume blühn.
Hast nun den Weihnachtsmann gespielt
und glaubst nicht mehr an ihn.
Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.
Dann dröhnt das Erz und spricht:
„Das Jahr kennt seinen letzten Tag,
und du kennst deinen nicht.“


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