Aus „Gott“ wurde lediglich eine Struktur im All (oder eine mathematische Formel).
Aus „schön“ wurde lediglich die Beobachtung einer „bemerkenswerten“ historischen Entwicklung.
Du verwahrst Dich außerdem gegen die Behauptung, hier ging es um etwas Übernatürliches — auch dem stimme ich zu.
Du sagst sogar, dieses „etwas“ sei den Naturgesetzen unterworfen, wäre also nicht frei, dagegen zu verstoßen, und auch nicht frei, diese zu erschaffen. Zitat von Dir: „ich habe nirgends von einer Übernatürlichkeit geschrieben oder Dingen, die nicht Naturgesetzen unterworfen sind“.
Obwohl ich Dir also in weiten Teilen zustimme (dass man hier eine interessante Beobachtung machen könne, die völlig mit den Naturgesetzen übereinstimmt und vollständig in deren Grenzen abläuft), taucht hier erneut ein rhetorischer Trick auf:
Du schreibst, dass man eben nicht wisse, wohin die Reise geht, und deswegen würdest Du alles offen lassen. Mit anderen Worten: „Jede noch so absurde Idee ist gleichwertig, denn wer weiß schon, was wir morgen entdecken? Für die Neandertaler war die Quantenphysik ebenfalls absurd. Das klügste ist, wenn wir alles offen lassen, auf ewig!“
Aber das ist falsch, und zwar beweisbar falsch. Denn jene Dinge, die experimentell beobachtet wurden, werden ihre Gültigkeit nie verlieren. Wenn Newton seinen Apfel auf den Boden fallen ließ, dann wird kein zukünftiges Ereignis daran etwas ändern. Wenn auf dem Mond gemessen wurde, dass ein Hammer und eine Feder in exakt gleicher Geschwindigkeit zu Boden fallen, dann behält diese Messung ihre Gültigkeit für alle Zeiten.
Zwar werden wir womöglich mehr über die Erklärungen erfahren. Aber alle Erklärungen, die wir noch entdecken werden, müssen sich zwangsläufig den bereits gemachten Experimenten beugen. Wir werden niemals eine Erklärung finden, die die gemachten Experimente umkehrt. Keine Erklärung kann etwas daran ändern, dass Newtons Apfel zu Boden fiel. Der Fall des Apfels, sein Gewicht, seine Geschwindigkeit und alle anderen messbaren Faktoren gelten ewig.
Es ist also keineswegs zutreffend, dass alles in alle Richtungen offen wäre. Der Wissenschaft ist es mittlerweile gelungen, die noch offenen Fragen so einzugrenzen, dass deren Antworten sich nur in einem ganz engen Korridor bewegen können. Es ist wie bei einem Puzzle, bei dem noch einige Teile fehlen. Diese fehlenden Teile können das bereits gebastelte Bild des Eiffelturms nicht plötzlich in das Bild eines Wasserfalls verändern.
Mehr noch: Selbst wenn einige Puzzlestücke für immer fehlen würden, könnten wir dennoch glasklar sagen, ob es sich bei dem Gesamtbild um den Eiffelturm oder um einen Wasserfall handelt. Wer behauptet, es bliebe bis zum letzten Puzzlestückchen ungewiss, dürfte größte Schwierigkeiten haben, dies plausibel zu machen.
Soziale Phänomene, wie die Entwicklung von Moral, werden hier z.T. mit evolutionären Vorteilen begründet und die Evolution dieser Phänomene mit der biologischen gleichgesetzt.
Hier liegt bereits gleich zu Beginn eine maßgeblich irreführende Annahme: Eindeutig abgrenzbare Objekte, wie Gene, werden mit komplexen kulturellen, subjektiv ganz unterschiedlich interpretierbaren, Phänomenen gleichgesetzt. Wissenschaftlich schlicht unhaltbar. Da ist es kein Wunder, dass es dazu keinerlei empirische Forschung gibt: Mit so einem Schmarrn beschäftigt sich - Gottseidank - kein seriöser Wissenschaftler. Und Dawkins, von dem dieser Schmarrn stammt, ist schon lange nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Klares Statement .... wer ist denn jetzt state of the art in der Forschung zur Moralentwicklung?
(Kohlberg schliessen wir mal aus )
m.
Nun ja, die Frage ist erst einmal aus welcher Perspektive.
Die Rekonstruktion der Moralentwicklung aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive (Beobachtung 1.Ordnung) hat, der Beobachterperspektive folgend, unterschiedliche Ergebnisse: Individualpsychologisch, Sozialpsychologisch, Philosophisch, Ökonomisch etc.
All das zu überblicken wäre schon anmaßend. Noch anmaßender wäre, DIE Meta-Erklärung, DAS Erklärungsmodell anbieten zu können. Einen solchen Versuch (Beobachtung 2. Ordnung) hat die Systemtheorie versucht, dabei gute Ergebnisse erzielt, aber immer noch weit weg von dem was wir „letzte Erkenntnis“ nennen könnten. Und: wer einen solchen Anspruch erhebt, hat sich m.E. in seriösen Diskussionen disqualifiziert.
Einen guten Überblick über den (psychologisch-sozilogischen) „State of the Art“, auch zu den Grenzen Kohlbergs, findest Du, wenn es Dich wirklich interessiert, hier:
Danke, die Perspektive habe ich bewusst offen gelassen, vielleicht gibt es ja mal was neues und ja, es interessiert mich wirklich, aber ehrlich gesagt, statt vieles und vielerlei hätte ich mir jetzt mal den Namen einer grossen Synthese gewünscht.
Gibt es aber vielleicht momentan nicht im Angebot und - wieder ja - Kohlberg & Piaget waren jetzt mal einfach willkürlich ausgeschlossen, ist mir zu revolutionär
In der biologischen Evolution haben wir es mit einem einfachen Mechanismus zu tun, Mutation und Selektion.
Auch in der chemischen Evolution finden wir einen einfachen Mechanismus: Der Fortbestand des Stabilen. Die physikalische Evolution, beispielsweise die Entwicklung von Wasserstoffgas hin zu komplexen Galaxien, folgt ebenfalls einfachen Grundprinzipien, etwa, dass jedes System einem Zustand geringstmöglicher Energie zustrebt.
Auch in der kulturellen Entwicklung gibt es einfache Grundprinzipien (und keinen Sack voll komplizierter Theorien, aufgeteilt in diverse Teilgebiete der Sozialwissenschaften).
Beispiel: Städte sind zweifellos ein Ergebnis der kulturellen Entwicklung des Menschen. Warum haben sie überall auf der Welt die gleiche Struktur?
Überall finden wir die Angebote des täglichen Bedarfs (Bäckereien, Lebensmittelgeschäfte etc.) in den Zentren und Subzentren, während die Angebote des gelegentlichen Bedarfs (Möbelhäuser, Tennisplätze) an den Rändern platziert sind. Tankstellen haben typische Lagen an den Ausfallstraßen. Postämter, Parkhäuser und Kinos sind wiederum im Zentrum. Strukturell sind alle Städte der Welt mehr oder weniger gleich.
Hat sich das jemand so ausgedacht, oder vollzieht sich hier eine einfache Gesetzmäßigkeit der kulturellen Entwicklung?
Ich bin der Meinung, dass die strukturelle Aufteilung einer Stadt ein Bündel der jeweils erfolgreichsten Strategien darstellt. Früher oder später findet man die Bäckereien genau dort, wo sie von den Menschen täglich gut genutzt werden können. Das gilt für alle Geschäfte, die den täglichen Bedarf der Kunden decken sollen. Hingegen wird ein großes Möbelhaus eher am Stadtrand mit seinen günstigen Mieten erfolgreich sein können. Wenn das peripher gelegene Möbelhaus und die zentral gelegene Bäckerei die Lage tauschen, gehen beide unter. Die Bäckerei am Mangel an Kundschaft in direkter Nachbarschaft, das Möbelhaus an den horrenden Mieten des Zentrums.
Gesteuert wird das durch die Balance von Kosten und Nachfrage etc. blabla, das kennt Ihr ja alles. Auf einer abstrakteren, grundsätzlicheren Ebene erkennt man, dass sich erfolgreiche Strategien durchsetzen gegenüber weniger erfolgreichen Strategien. Eine Krawatten-Fachgeschäft im Zentrum ist eine erfolgreichere Strategie als eines am Güterbahnhof.
Jetzt kommt’s: Diese Struktur einer Stadt würde sich auch dann von selbst realisieren, wenn sie ausschließlich von Menschen bevölkert wäre, die den Intellekt eines Grünkohls haben. Zwar würden sie zunächst ihre Geschäfte an den unmöglichsten Stellen eröffnen. Doch nur dort, wo zufällig ein Geschäft an einer günstigen Stelle zu liegen käme, hätte es dauerhaft Erfolg und damit Bestand. Die erfolglosen Geschäfte gehen pleite und das Spiel beginnt von vorne. Nach und nach, im Sinne einer kulturellen Evolution, ergäbe sich eine sinnvoll strukturierte Stadt. Fast alle Geschäfte liegen dann an günstigen Stellen. Nicht weil die Geschäftsleute und Stadtplaner besonders klug wären, denn sie sind in diesem Beispiel dumm wie Grünkohl. Die sinnvolle Struktur der Stadt ergibt sich von selbst, durch das Wirken eines einfachen Prinzips.
Städte sind ein bauliches Spiegelbild menschlicher Interaktion. Wenn uns die strukturelle Gleichförmigkeit aller Städte stutzig macht, können wir uns dafür interessieren, ob menschliche Interaktionen auch an anderer Stelle Strukturen hervorbringen, die einfachen Grundprinzipien folgen. Das Grundprinzip lautet hier, dass erfolgreiche Strategien sich durchsetzen und ausbreiten.
Zur Moral ist es dann nur noch ein kleiner Schritt: Erfolgreiche Strategien sind beständig und prägen unsere Gewohnheiten. Sie setzen dadurch auch die Normen unseres Umgangs miteinander. Wir nennen das dann "Moral" und halten es für unsere eigene Erfindung.
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Ich bin der Meinung, dass die strukturelle Aufteilung einer Stadt ein Bündel der jeweils erfolgreichsten Strategien darstellt. .......
Der Mangel dieses Prinzips, auf Objekte der Gesellschaften angewendet, ist, dass es sowie die "Theorie" selbst keinerlei Kriterien anbieten, welchen Zeitraum und welche Objekte man wie auswählt, für die jeweils eine erfolgreiche Strategie behauptet wird. Je nach Zeitraum und Auswahl der Objekte, die verglichen werden, kann man zu unterschiedlichen bis widersprüchlichen Aussagen kommen. Diese erscheinen mir deswegen völlig beliebig und bleiben vollkommen an der Oberfläche, vermitteln aber den Anschein einer scheinbar überall gültigen Gesetzmässigkeit.
Ps: In Berlin liegen z.B. viel mehr Möbelhäuser im Stadtgebiet als ausserhalb. (du antwortest jetzt: Weil es halt für Berlin die erfolgreichste Strategie darstellt . d.h. du siehst einfach überall dieses Prinzip am wirken, egal ob mehr Möbelhäuser in oder ausserhalb der Stadt liegen. Das Prinzip ist somit ähnlich wie ein "Glaubenssatz" in meinen Augen, es liegt nur im Auge des Betrachters, ob man es erkennt, weil es sich nicht empirisch prüfen lässt) )